Mutterliebe von Rudolf Lavant

„Was suchst du in der Einsamkeit
Mit deinem Kinde, junge Mutter,
Von jeder Menschenhilfe weit?"
Für ihre Kuh ein wenig Futter.
Sie klomm, die Sichel in der Hand,
Empor auf schmalen steilen Steigen,
Bis sie an wildem Abgrund stand –
Rings kahle Höh'n und tiefes Schweigen.
 
Hier pocht kein drittes Menschenherz,
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Kein Menschenlaut verweht im Winde –
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Nur sie mit Schmeichellaut und Scherz
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Spricht bei der Arbeit zu dem Kinde.
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Des Wildbachs dumpfes Tosen dringt
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Zu ihr empor wie leises Rieseln,
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Und in der Morgenstille klingt
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Wie Uhrgetick der Fall von Kieseln.
 
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Nur über Schnee und Nagelflue
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Läßt achtlos sie die Blicke schweifen –
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Aus weiter Ferne ab und zu
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Des Murmelthieres warnend Pfeifen;
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Und in den Schlummer lullt ihr Kind
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Der Wasser monotones Fallen,
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Der frische, kühle Morgenwind
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Und ferner Herdenglocken Hallen.
 
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Da horch! ein langgezogner Schrei,
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Ein Schrei der Angst, ein Schrei des Zornes -
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Die Adlermutter schießt herbei
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Vom höchsten Punkt des nächsten Hornes,
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Denn eine Spalte in der Wand,
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Erreichbar mittelst eines Sprunges,
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Sie birgt, wo Keiner noch ihn fand,
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Den Horst und in dem Horst ihr Junges.
 
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Nun hoffe nicht, daß dich die Flucht
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Hinab zur nächsten Hütte trage!
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Es stieße dich in eine Schlucht
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Der Aar mit mächt'gem Flügelschlage.
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Du mußt der zweiten Mutter stehn,
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Dem Fangesschlag, dem Schnabelhiebe -
39 
Du mußt in ihren Augen sehn,
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Die dich beseelt, die Mutterliebe!
 
41 
Dein Fuß steht fest, ob er auch nackt,
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Stark ist dein Arm, der sehnenstraffe,
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Und nun mit raschem Griff gepackt
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Die Sichel, deine einz'ge Waffe!
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Dich und dein Kind bewahrt dein Muth
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Vor jähem Sturz ins Reich der Grüfte –
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So triff sie sicher denn und gut,
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Die Räuberkönigin der Lüfte!
 
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Und wenn sich unter deinem Stoß
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Die Herzenswunde tödtlich weitet,
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Wie sinkt sie, noch im Fallen groß,
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Das stolze Schwingenpaar gebreitet!
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Auf Steinen, zackig, rauh und kahl,
54 
Wird in der Schlucht ihr Leib gebettet –
55 
Du aber schreitest froh zu Thal,
56 
Du und dein Kind, durch dich gerettet!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.7 KB)

Details zum Gedicht „Mutterliebe“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
321
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichts ist Rudolf Lavant, ein deutscher Schriftsteller, der von 1844 bis 1915 lebte. Eine zeitliche Einordnung ist in diesem Fall etwas schwieriger, da er über einen langen Zeitraum hinweg geschrieben hat. Das Gedicht könnte jedoch aufgrund der Thematik und des Stils in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts oder frühes 20. Jahrhundert einzuordnen sein.

Auf den ersten Blick fällt die Beschreibung einer intensiven, bedrohlichen Naturerfahrung auf, in der eine junge Mutter und ihr Kind alleine sind und gegen Gefahren ankämpfen.

Das Gedicht erzählt die Geschichte einer jungen Mutter und ihrem Kind in der Einsamkeit der Berge. Sie sucht Futter für ihre Kuh und gelangt dabei an einen Abgrund. In der Stille der Berge arbeitet sie an der Seite ihres Kindes. Sie wird gewarnt durch die Pfeifen des Murmeltiers und wiegt ihr Kind mit den Geräuschen der Natur in den Schlaf. Plötzlich hört sie einen Schrei, der Mutteradler schützt ihr Junges vor der vermeintlichen Gefahr. Die Frau muss sich der drohenden Gefahr stellen. Mit ihrer Sichel als Waffe setzt sie sich gegen das Adlerweibchen zur Wehr und kann es erlegen. Sie und ihr Kind sind gerettet und sie kehrt wieder ins Tal zurück.

Das lyrische Ich schildert hier auf sehr direkte Weise eine Auseinandersetzung zwischen einer Mutter und der Natur, in der die Mutterliebe als stärkste Kraft hervorgeht. Der Autor stellt den unerschütterlichen Mut und die Stärke einer Mutter dar, die alles tut, um ihr Kind zu beschützen.

Was die Form betrifft, besteht das Gedicht aus sieben Strophen zu je acht Versen. Der Gesamtverlauf des Gedichts ist dabei erzählend und folgt einer linearen Handlung. Die Sprache ist klar und unverblümt, dabei aber auch bildreich und detailgenau. Es werden viele Natursymbole verwendet, die eine bedrohende Atmosphäre schaffen. Hierbei handelt es sich auch um eine Form von balladesken Merkmalen, da eine dramatische Handlung in Versform erzählt wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rudolf Lavant in diesem Gedicht die erhabene Stärke und Opferbereitschaft von Mutterliebe zum Ausdruck bringt. Trotz der Gefahren und der harten Arbeit in der Natur lässt sich die Mutter von nichts abschrecken und setzt sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel, um ihr Kind zu beschützen. Mit seiner detaillierten und dramatischen Beschreibung schafft der Autor dabei einen spannenden und mitreißenden Text, der die Lesenden in den Bann zieht.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Mutterliebe“ ist Rudolf Lavant. Lavant wurde im Jahr 1844 in Leipzig geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1893. Der Erscheinungsort ist Stuttgart. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Naturalismus oder Moderne zuordnen. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 321 Worte. Rudolf Lavant ist auch der Autor für Gedichte wie „Agrarisches Manifest“, „An Herrn Crispi“ und „An das Jahr“. Zum Autor des Gedichtes „Mutterliebe“ haben wir auf abi-pur.de weitere 96 Gedichte veröffentlicht.

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