Museumsschweigen von Joachim Ringelnatz

Wie’s Gedanken gibt,
Die durch Stein und Welten gehn,
Kann’s geschehn,
Daß die Fliege den Ichthyosaurus liebt.
 
Still ist’s im Museumssaal.
 
„Lieber Freund, ich liege
Fest in Bernstein“, sagt die Fliege,
„Bernstein ist ein Mineral.
Und ich liebe dich, du Riesenexemplar,
10 
Und ich möchte deinetwegen
11 
Nur noch einmal Eier legen.“
 
12 
„Bernstein?
13 
Kann gern sein“,
14 
Sagt das Ichthyosau,
15 
„Aber ich bin auch eine Frau,
16 
Eine sehr entschlossene sogar.
17 
Weil ich noch in dem Momente,
18 
Als gewisse Elemente
19 
Mich erstickten, noch ein Kind halb gebar.“
 
20 
„Eier oder lebendig – –“,
21 
Sagt die Fliege, „Wir wohnen
22 
Beide auf der Welt seit Millionen
23 
Jahren. – Wissen Sie die Zahl noch auswendig?“
 
24 
„Nicht so ganz genau“,
25 
Sagt Frau Ichthyosau,
26 
„Aber wollen wir doch nicht sentimental
27 
Flöten oder winseln.
28 
Nein, versuchen wir jetzt wieder einmal,
29 
Ganz verliebt einander anzublinzeln.“
 
30 
Da betrat den Museumssaal
31 
Der pensionsberechtigte Museumswärter.
32 
Und da blinzelten die beiden nicht.
33 
Denn solch Wärter
34 
Tut eben seine Pflicht
35 
Und schürft nicht tiefer.
36 
Denn Beamtenpflicht ist härter
37 
Als Bernstein und Schiefer.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.4 KB)

Details zum Gedicht „Museumsschweigen“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
37
Anzahl Wörter
165
Entstehungsjahr
1929
Epoche
Moderne,
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Museumsschweigen“ wurde von Joachim Ringelnatz, einem bedeutenden Vertreter der expressionistischen Lyrik in Deutschland, verfasst. Ringelnatz lebte von 1883 bis 1934, daher kann man das Gedicht etwa in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einordnen.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht humorvoll, leicht skurril und sprachlich spielerisch. Es erzählt die fiktive Unterhaltung zwischen einer in Bernstein eingeschlossenen Fliege und einem fossilen Saurier in einem Museum.

In einfachen Worten könnte man den Inhalt so beschreiben: Die Fliege, obwohl fest im Bernstein eingeschlossen, gesteht ihre Liebe zum Ichthyosaurus. Der Dinosaurier geht darauf ein, erwähnt aber, dass er eine Frau ist und sogar noch ein halbes Kind gebar, als er starb. Die Fliege merkt an, dass sie beide schon Millionen von Jahren auf der Welt sind und fragt spielerisch, ob der Saurier das noch auswendig weiß. Sie schlagen dann vor, dass sie „verliebt einander anblinzeln“ sollen. Allerdings verhindert das Eintreten des Museumsaufsehers, auf dessen Pflichtbewusstsein hier ironisch angespielt wird, eine weitere Interaktion.

Möglicherweise will das lyrische Ich damit auf die zeitlose Natur der Liebe hindeuten, die vielleicht sogar die Grenzen von Art, Zeit und physischen Grenzen überwinden kann. Aber es könnte auch die Ironie und Tragik des Lebens betonen, da sowohl die Fliege als auch der Saurier tot und konserviert sind.

In Bezug auf die Form fällt auf, dass das Gedicht in sieben Strophen mit variierender Versanzahl unterteilt ist. Die Form ist also recht flexibel und entspricht keinem traditionellen Muster. Zudem weist das Gedicht keinen konsequenten Reimschema auf, was seine Unkonventionalität betont.

Sprachlich charakterisiert das Gedicht eine lockere, alltagssprachliche Ausdrucksweise mit einer Prise Humor. Es gibt viele Dialoge und direkte Anreden, wodurch das Gedicht lebendig und zugänglich wirkt. Außerdem verwendet Ringelnatz ungewöhnliche, aber auch sehr bildliche Vergleiche wie „Beamtenpflicht ist härter / Als Bernstein und Schiefer“, die zur humorvollen und leicht absurden Atmosphäre des Gedichts beitragen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Museumsschweigen“ des Autors Joachim Ringelnatz. Geboren wurde Ringelnatz im Jahr 1883 in Wurzen. 1929 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Berlin. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Moderne oder Expressionismus zuordnen. Bei dem Schriftsteller Ringelnatz handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 37 Versen mit insgesamt 7 Strophen und umfasst dabei 165 Worte. Weitere Werke des Dichters Joachim Ringelnatz sind „Abschied von Renée“, „Abschiedsworte an Pellka“ und „Afrikanisches Duell“. Zum Autor des Gedichtes „Museumsschweigen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 560 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Joachim Ringelnatz

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Joachim Ringelnatz und seinem Gedicht „Museumsschweigen“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz (Infos zum Autor)

Zum Autor Joachim Ringelnatz sind auf abi-pur.de 560 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.