Morgenklagen von Johann Wolfgang von Goethe

O du loses, leidigliebes Mädchen,
Sag mir an, womit hab’ ich’s verschuldet,
Daß du mich auf diese Folter spannest,
Daß du dein gegeben Wort gebrochen?
 
Drucktest doch so freundlich gestern Abend
Mir die Hände, lispeltest so lieblich:
Ja, ich komme, komme gegen Morgen
Ganz gewiß, mein Freund, auf deine Stube.
 
Angelehnet ließ ich meine Thüre,
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Hatte wohl die Angeln erst geprüfet,
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Und mich recht gefreut, daß sie nicht knarrten.
 
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Welche Nacht des Wartens ist vergangen!
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Wacht’ ich doch und zählte jedes Viertel:
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Schlief ich ein auf wenig Augenblicke,
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War mein Herz beständig wach geblieben,
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Weckte mich von meinem leisen Schlummer.
 
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Ja, da segnet’ ich die Finsternisse,
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Die so ruhig alles überdeckten,
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Freute mich der allgemeinen Stille,
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Horchte lauschend immer in die Stille,
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Ob sich nicht ein Laut bewegen möchte.
 
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„Hätte sie Gedanken wie ich denke,
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Hätte sie Gefühl wie ich empfinde,
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Würde sie den Morgen nicht erwarten,
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Würde schon in dieser Stunde kommen.“
 
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Hüpft’ ein Kätzchen oben über’n Boden,
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Knisterte das Mäuschen in der Ecke,
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Regte sich, ich weiß nicht was, im Hause,
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Immer hofft’ ich deinen Schritt zu hören,
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Immer glaubt’ ich deinen Tritt zu hören.
 
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Und so lag ich lang’ und immer länger,
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Und es fing der Tag schon an zu grauen,
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Und es rauschte hier und rauschte dorten.
 
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„Ist es ihre Thüre? Wär’s die meine!“
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Saß ich aufgestemmt in meinem Bette,
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Schaute nach der halb erhellten Thüre,
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Ob sie nicht sich wohl bewegen möchte.
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Angelehnet blieben beyde Flügel
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Auf den leisen Angeln ruhig hangen.
 
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Und der Tag ward immer hell und heller;
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Hört’ ich schon des Nachbars Thüre gehen,
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Der das Taglohn zu gewinnen eilet,
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Hört’ ich bald darauf die Wagen rasseln,
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War das Thor der Stadt nun auch eröffnet,
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Und es regte sich der ganze Plunder
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Des bewegten Marktes durch einander.
 
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Ward nun in dem Haus ein Gehn und Kommen,
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Auf und ab die Stiegen, hin und wieder
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Knarrten Thüren, klapperten die Tritte;
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Und ich konnte, wie vom schönen Leben,
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Mich noch nicht von meiner Hoffnung scheiden.
 
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Endlich, als die ganz verhaßte Sonne
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Meine Fenster traf und meine Wände,
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Sprang ich auf, und eilte nach dem Garten,
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Meinen heißen, sehnsuchtsvollen Athem
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Mit der kühlen Morgenluft zu mischen;
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Dir vielleicht im Garten zu begegnen:
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Und nun bist du weder in der Laube,
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Noch im hohen Lindengang zu finden.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.2 KB)

Details zum Gedicht „Morgenklagen“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
59
Anzahl Wörter
384
Entstehungsjahr
1788
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das vorgelegte Gedicht stammt von Johann Wolfgang von Goethe, einem der bedeutendsten Vertreter der deutschen Literatur. Goethe lebte von 1749 bis 1832, somit kann man das Gedicht der Epoche der Klassik und Romantik zuordnen.

Auf den ersten Blick fällt die Länge des Gedichts und seine detailreiche Erzählweise auf. Es handelt von einem unerfüllten Liebesversprechen. Das lyrische Ich hat von seiner Geliebten das Versprechen bekommen, dass sie ihn in der Nacht besucht. Er bereitet alles vor, wartet ängstlich und hoffnungsvoll, doch sie taucht nicht auf. Mit dem Morgengrauen und dem Erwachen der Welt um ihn herum endet seine Hoffnung, sie noch zu sehen.

Das lyrische Ich drückt tiefen Schmerz und Verzweiflung aus. Es zeigt, wie sich das Warten in die Länge zieht und wie jeden Moment abgepasst wird. Es macht deutlich, wie intensiv die Sehnsucht nach der Geliebten ist und wie quälend das Alleinsein sein kann.

In Bezug auf die Form des Gedichts fällt auf, dass die Anzahl der Verse in den Strophen variiert. Das spiegelt die emotionale Intensität und Unruhe des lyrischen Ichs wider. Es gibt keine festgesetzte Reimschema, doch findet man immer wieder Endreime und Binnenreime.

Die Sprache des Gedichts ist anspruchsvoll und bildreich. Details wie das Knarren der Tür, das Rascheln der Mäuse oder das Eröffnen des Stadttores unterstreichen die nächtliche Atmosphäre und die Intensität der Gefühle. Zudem nutzt Goethe Metaphern und Vergleiche, um die Emotionen des lyrischen Ichs zu verdeutlichen, wie das „Finsternisse“ als Symbol für seine Verzweiflung und Einsamkeit.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Goethes „Morgenklagen“ ein eindringliches Bild von unerfüllter Liebe und quälender Sehnsucht zeichnet, das sowohl sprachlich als auch formal höchst kunstvoll umgesetzt ist.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Morgenklagen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Wolfgang von Goethe. Goethe wurde im Jahr 1749 in Frankfurt am Main geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1788 entstanden. In Leipzig ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zu. Der Schriftsteller Goethe ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Die Epoche des Sturm und Drang reicht zeitlich etwa von 1765 bis 1790. Sie ist eine Strömung innerhalb der Aufklärung (1720–1790) und überschneidet sich teilweise mit der Epoche der Empfindsamkeit (1740–1790) und ihren Merkmalen. Häufig wird der Sturm und Drang auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet. Die Klassik knüpft an die Literaturepoche des Sturm und Drang an. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Schriftsteller des Sturm und Drang waren zumeist junge Autoren, häufig unter 30 Jahre alt. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde insbesondere darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die alten Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Mit seinen beiden bedeutenden Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.

Die Weimarer Klassik dauerte von 1786 bis 1832 an. Zentrale Vertreter dieser Literaturepoche waren Goethe und Schiller. Die zeitliche Abgrenzung orientiert sich dabei an dem Schaffen Goethes. So wird dessen erste Italienreise im Jahr 1786 als Beginn der deutschen Klassik angesehen, die dann mit seinem Tod im Jahr 1832 ihr Ende nahm. Ausgangspunkt und literarisches Zentrum der Weimarer Klassik (kurz auch häufig einfach nur Klassik genannt) war Weimar. Humanität, Güte, Gerechtigkeit, Toleranz, Gewaltlosigkeit und Harmonie sind die wichtigsten Themen. Die Weimarer Klassik orientiert sich am antiken Kunstideal. Typisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal der Literaturepoche des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Vernunft und Gefühl. Die Dichter haben in der Weimarer Klassik auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die wichtigen Vertreter der Weimarer Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.

Das vorliegende Gedicht umfasst 384 Wörter. Es baut sich aus 12 Strophen auf und besteht aus 59 Versen. Johann Wolfgang von Goethe ist auch der Autor für Gedichte wie „An den Selbstherscher“, „An die Entfernte“ und „An die Günstigen“. Zum Autor des Gedichtes „Morgenklagen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1618 Gedichte veröffentlicht.

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