Mein Glaube von Johann Heinrich von Mädler

Auf dieser Wahlstatt blut’ger Meinungskriege,
Wo Wahrheit und Vernunft begraben liegt,
Auf dieser Kugel, wo vom Sieg zum Siege
Das Ungeheuer der Verfolgung fliegt,
In diesem Reich der Finsterniß und Lüge,
Wo man die Menschheit in den Traum gewiegt,
Hier will ich meinen Glauben treu bekennen,
Mag’s auch die Welt dann, wie sie Lust hat, nennen.
 
Nicht jenen Gott, den man Jehovah nannte,
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Der heute schafft und morgen schon bereut,
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Deß’ roher Blutdurst kein Erbarmen kannte,
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Den Feind des Mitleids, wie der Menschlichkeit;
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Der wilde Löwen in die Hütten sandte,
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Weil man ihm keine Tempel noch geweiht,
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Der nicht erröthet, Diebstahl zu befehlen,
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Und hinterher gebeut: du sollst nicht stehlen!
 
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Auch das Phantom nicht, daß dem kranken Hirne
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Des Mönchleins Athanasius entsprang,
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Und dem ein Pontifex mit frecher Stirne
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Von blinden Irrenden Respect erzwang;
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Wie der gesunde Menschensinn auch zürne,
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Das ungeheure Wagestück gelang.
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Das Schwert muß die Vernunft darnieder halten,
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Bis man den Gott, den Einigen, zerspalten.
 
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Ach! tausende von Scheiterhaufen brannten
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Dem Zerrbild, das aus solcher Quelle stammt,
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Für Alle, die sich nicht zu ihm bekannten,
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In denen noch ein Gottesfunke flammt.
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Und nicht genug, daß sie den Leib verbrannten,
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Die Seele ward zur Höllengluth verdammt
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Von jenem Pfäfflein, das die Welt verblendet,
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Das heiligste der Rechte ihr entwendet.
 
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Nur dich, der ewig über Welten thronet,
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Und den kein sterblich Auge je erkannt;
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Dich, der in jedem reinen Herzen wohnet,
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Den jeder, der dich ernstlich suchte, fand;
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Dich, der die Wahrheit liebt, den Irrthum schonet
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Und den kein Tempel schließt, kein heilig Land,
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Dich will ich glauben, deinen Lohn erwerben,
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Dein will ich sein im Leben und im Sterben.
 
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Dich wollten jene alten Forscher finden,
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In ihren Hallen hat dein Licht gewohnt;
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Dich wollt’ uns einst Maria’s Sohn verkünden,
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Die Mit- und Nachwelt hat es ihm gelohnt.
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Wo Priesterwuth und Irrthum sich verbünden,
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Wird Keiner, der dich laut bekennt, verschont.
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Zu allen Zeiten kannten dich die Weisen,
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Doch ehrten sie dich still in engern Kreisen.
 
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Da waren sie vereint, dein Buch zu lesen,
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Dein großes Buch, die herrliche Natur.
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Es predigt dich, du Wesen aller Wesen,
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Auf jedem Blatte deines Waltens Spur.
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Was je zu schauen uns vergönnt gewesen,
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Es fand sich stets in diesem Buche nur.
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Dem einzigen, das du allein geschrieben,
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Dem einzigen, das unverfälscht geblieben. –
 
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Auch mir hast du gewährt, hineinzublicken,
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Wie du den Sonnen zeigtest ihre Bahn.
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Mit ihrem Glanz die Erden zu erquicken
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Im unermess’nen Himmelsocean.
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Und Monde sah ich um Planeten rücken
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Nach weisem, ewig unverrücktem Plan;
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Ein Band umschlingt das mächtige Getriebe,
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Das große allgemeine Band der Liebe.
 
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Doch nicht allein in sonnenfernen Sphären,
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Im Gange deiner großen Weltenuhr,
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Darf dich der Mensch, der Erde Sohn, verehren,
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Denn rings um ihn ist deiner Güte Spur.
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Und jede Blume, jeder Wurm kann lehren,
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Wie herrlich du bist, Schöpfer der Natur.
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Uns gönntest du, mit Einsicht dich zu lieben –
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O, wäre doch der Mensch dir treu geblieben.
 
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Der du die rollenden Planeten lenkest,
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Der du die Haare meines Hauptes gezählt,
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Der du des niedrigsten Geschöpfs gedenkest,
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Dich, ew’ger Vater, habe ich mir erwählt.
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Dank dir für alles Gute, das du schenkest!
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Du sorgst, daß nichts an meiner Wohlfahrt fehlt;
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Wie, wann und wo mein Erdenleben ende –
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Ich gebe meinen Geist in deine Hände.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30.3 KB)

Details zum Gedicht „Mein Glaube“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
80
Anzahl Wörter
545
Entstehungsjahr
nach 1810
Epoche
Klassik,
Romantik,
Biedermeier

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Mein Glaube“ stammt von Johann Heinrich von Mädler, einem deutschen Astronomen und Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert.

Beim ersten Lesen des Gedichts fällt auf, dass es sich um eine kritische Betrachtung der konventionellen Religion und ihres Gottesbildes handelt. Das lyrische Ich hinterfragt und lehnt die traditionellen Vorstellungen von Gott als einem strafenden, rachsüchtigen Wesen ab, das in zornigen Vergeltungsakten und in den Verfolgungen der menschlichen Vernunft durch die Kirche gesehen wird.

In den verschiedenen Strophen betont das lyrische Ich seinen eigenen, individuellen Glauben an ein übergeordnetes, mächtiges und gültiges Prinzip des Universums. Dieses Prinzip oder diese höhere Macht löst das starre und brutale Gottesbild der traditionellen Religion ab. Gott ist in der Wahrheit zu finden, die in der Liebe und in der mächtigen Ordnung der Natur und des Universums ausgedrückt wird.

Die sprachlichen Bilder und Metaphern von Mädler sind stark, eindrucksvoll und deutlich. Sie stellen extreme Kontraste zwischen der dunklen und blutigen Welt der konventionellen Religion und der leuchtenden, harmonischen Welt des Universums dar, die allein durch die Vernunft erfasst und verstanden werden kann.

Das Gedicht besteht aus zehn achtsilbigen Strophen, die jeweils ein abweichendes, nicht gleichbleibendes Reimschema aufweisen. Durch diese Form verleiht Mädler seiner Botschaft und seinen Überzeugungen Ausdruck und betont dabei die Schönheit und Wahrheit der natürlichen Welt im Gegensatz zur Härte und Grausamkeit der traditionellen Religion.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Mädler in „Mein Glaube“ seine tiefsten Überzeugungen und sein eigenes Verständnis von Gott als etwas Wesentlichem ausdrückt, das sich nicht in den Begrenzungen der konventionellen Religionen einengen lässt, sondern das im großen Ganzen, in der kosmischen Ordnung und harmunischen Bewegung des Universums zu finden ist.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Mein Glaube“ ist Johann Heinrich von Mädler. Mädler wurde im Jahr 1794 in Berlin geboren. Im Zeitraum zwischen 1810 und 1874 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Klassik, Romantik, Biedermeier, Junges Deutschland & Vormärz oder Realismus zugeordnet werden. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das vorliegende Gedicht umfasst 545 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 80 Versen. Zum Autor des Gedichtes „Mein Glaube“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

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