Martyrinnen von Rainer Maria Rilke

Martyrin ist sie. Und als harten Falls
mit einem Ruck
das Beil durch ihre kurze Jugend ging,
da legte sich der feine rothe Ring
um ihren Hals, und war der erste Schmuck,
den sie mit einem fremden Lächeln nahm;
aber auch den erträgt sie nur mit Scham.
Und wenn sie schläft, muß ihre junge Schwester
(die, kindisch noch, sich mit der Wunde schmückt
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von jenem Stein, der ihr die Stirn erdrückt,)
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die harten Arme um den Hals ihr halten,
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und oft im Traume fleht die andre: Fester, fester.
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Und da fällt es dem Kinde manchmal ein,
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die Stirne mit dem Bild von jenem Stein
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zu bergen in des sanften Nachtgewandes Falten,
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das von der Schwester Atmen hell sich hebt,
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voll wie ein Segel, das vom Winde lebt.
 
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Das ist die Stunde, da sie heilig sind,
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die stille Jungfrau und das blasse Kind.
 
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Da sind sie wieder wie vor allem Leide
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und schlafen arm und haben keinen Ruhm,
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und ihre Seelen sind wie weiße Seide,
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und von derselben Sehnsucht beben beide
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und fürchten sich vor ihrem Heldentum.
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Und du kannst meinen: Wenn sie aus den Betten
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aufstünden bei dem nächsten Morgenlichte
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und, mit demselben träumenden Gesichte,
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die Gassen kämen in den kleinen Städten, –
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es bliebe keiner hinter ihnen staunen,
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kein Fenster klirrte an den Häuserreihn,
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und nirgends bei den Frauen ging ein Raunen,
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und keines von den Kindern würde schrein.
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Sie schritten durch die Stille in den Hemden
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(die flachen Falten geben keinen Glanz)
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so fremd und dennoch keinem zum Befremden,
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so wie zu Festen, aber ohne Kranz.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Martyrinnen“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
257
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Martyrinnen“ stammt von Rainer Maria Rilke, einem bedeutenden Dichter der deutschen Literatur, der zwischen 1875 und 1926 lebte. Demnach kann das Werk zeitlich der Epoche der literarischen Moderne zugeordnet werden, die von etwa 1890 bis 1930 währte.

Rilke beschreibt in diesem Gedicht das Lebensschicksal von zwei Mädchen, die offenbar als Märtyrerinnen gelten. Im Verlauf des Gedichts wird das Leid und die Angst, aber auch die Stärke und der Mutes dieser beiden jungen Frauen deutlich.

Die Martyrinnen im Gedicht sind durch das Verbrechen ihrer Hinrichtung, symbolisiert durch das scharfe Beil, das ihre Jugend beendet hat, gezeichnet und dadurch in der Gesellschaft stigmatisiert. Sie ertragen diese Ausgrenzung mit Steadheit und Stärke, auch wenn sie ihnen Scham bereitet. Ihre Beziehungs- und Leidensgemeinschaft nehmen sie als gegeben hin, dabei führen sie stumme Gespräche und teilen ihre Ängste und Träume. Im Schlaf sind sie wieder unschuldig, „wie vor allem Leide“, und erträumen sich ein anderes Leben abseits ihrer Bedrängnisse.

Das Gedicht hat eine klare, rhythmische und reimfreie Form. Es besteht aus drei Strophen, wobei die erste und die dritte Strophe jeweils 17 Verse und die zweite Strophe zwei Verse hat. Die Sprache des Gedichts ist ausdrucksstark und bildhaft und wird durch Metaphern und Symbolik unterstrichen. Rilke nutzt beispielsweise das Bild des Beils, um die abrupt beendete Jugend der Mädchen zu symbolisieren, und den roten Ring, um die sichtbaren Zeichen ihres Martyriums zu verdeutlichen.

Rilke verleiht den beiden jungen Frauen eine starke Präsenz und Besonderheit, indem er ihre Tragik, aber auch ihren Mut und ihre Resilienz darstellt. Trotz ihres Leids werden sie nicht als Opfer, sondern als standhafte Martyrinnen dargestellt, die in der Stille ihrer Qualen Heldenhaftigkeit und Würde ausstrahlen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rilkes „Martyrinnen“ ein tiefgründiges und berührendes Gedicht ist, das das Leid und die Stärke junger Frauen inmitten von Gewalt und Ausgrenzung auf symbolische und eindrückliche Weise darstellt. Indem Rilke die Martyrinnen nicht als passive Opfer, sondern als aktive Gestalterinnen ihres Schicksals zeigt, fordert er den Leser zum Nachdenken und zur Reflexion über die menschliche Widerstandskraft und die Tragödie unerfüllter Jugend auf.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Martyrinnen“ ist Rainer Maria Rilke. Im Jahr 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1906 entstanden. Der Erscheinungsort ist Berlin / Leipzig, Stuttgart. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Der Schriftsteller Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 257 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 36 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Rainer Maria Rilke sind „Abend“, „Abend“ und „Abend“. Zum Autor des Gedichtes „Martyrinnen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 338 Gedichte vor.

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