Majestätsbeleidigung von Karl Henckell

Der Satan wurde Staatsanwalt,
Sein Herz, das war wie Eis so kalt.
Gott gab im Zorne dem Geschmeiß
Zum Busen einen Kübel Eis,
Und wo sonst Menschen Mitleid fühlen,
Da konnte man Champagner kühlen.
 
Zu Magdeburg in Vorhaft saß
Ein Sozialist, der jüngst vergaß,
Daß hoch im deutschen Vaterland
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Ein Götze thront, S. M. genannt,
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Des heiligen Namen zu betasten
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Genügt, verbrechrisch zu belasten.
 
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Zum Schutze solcher Majestät
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Sind diesem Götzen früh und spät
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Vom Mummelsee bis Helgoland
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Viel Götzenwächter vorgespannt,
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Die jedem Lästerer des Götzen
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Das Messer des Gesetzes wetzen.
 
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Zu Dessau lag mit reifem Leib
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Im Wochenbett ein junges Weib.
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Sie sah die schwere Stunde kommen
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Und schrieb und bat so angstbeklommen
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Den Büttelvogt: „O laßt’s geschehn!
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Darf ich ihn nicht noch einmal sehn?!“
 
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Sie fleht’ und schrieb zum andern Mal
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In Finsternis und Seelenqual.
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Vor ihren Augen fuhr der Tod
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Schon auf sie zu in schwarzem Boot,
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Und schaukelnd schwamm auf fahlem Teiche
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Das Wieglein mit der kleinen Leiche.
 
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Da, wie sie gell um Hilfe rief,
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Bracht’ ihr die Wärterin den Brief –
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Vom Mann, zum Trost in Pein und Gram?
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O nein! Die Weihnachtsbotschaft kam
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Vom Staatsanwalt. So schloß sein Schreiben:
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„Bedaure sehr, Ihr Mann muß bleiben!
 
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Wir lassen keinesfalls ihn los,
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Dafür ist seine Schuld zu groß.
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Man wird ihn schwer bestrafen müssen …“
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Das arme Weib sank in die Kissen
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– Ein jäher Schrei durch Mark und Bein! –
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Und starb. Hier steht ihr Leichenstein:
 
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„Im Reich der Gottesfurcht allhie
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Zur Zeit der Schmach ward schwanger sie.
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Ihr Mann fiel in des Satans Krallen,
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Da hat es Gott dem Herrn gefallen,
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Und nahm sie zu sich in der Nacht
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Der majestätischen Niedertracht.“
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Majestätsbeleidigung“

Anzahl Strophen
8
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
275
Entstehungsjahr
1883–1886
Epoche
Realismus,
Naturalismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Majestätsbeleidigung“ ist von Karl Henckell, einem im 19. und 20. Jahrhundert aktiven sozialistischen Dichter und Journalisten. Daher lässt sich das Gedicht in die Zeit des späten 19. Jahrhunderts und des Phänomens des „Majestätsbeleidigungs-Paragrafen“ einordnen, der von 1871 bis 2017 im deutschen Strafgesetzbuch stand und Beleidigungen gegen den Staatsoberhaupt unter Strafe stellte.

Das Gedicht hinterlässt beim ersten Lesen einen starken Eindruck von sozialer Ungerechtigkeit und Kritik an Autoritäten, nicht zuletzt aufgrund seiner düsteren und eindringlichen Sprache.

Der Inhalt des Gedichtes behandelt das Leiden einer Frau, deren Mann wegen Majestätsbeleidigung verhaftet wurde, und ihren erfolglosen Versuch, ihn freizubekommen. Sie versucht während ihrer Schwangerschaft, ihre tiefe Trauer und Angst und schließlich ihren Tod zu stilisieren. Die Art und Weise, wie sie sich verzweifelt an die Behörden wendet und der grausame Umgang der Staatsgewalt mit ihrer eigenen, intimen Krise wird eindrücklich dargestellt.

Die Botschaft des Gedichts ist klar: Es stellt eine Kritik gegen die herrschende Macht dar und thematisiert die Ungerechtigkeit und Brutalität, mit denen Individuen in einer undemokratischen Gesellschaft behandelt werden.

Formal besteht das Gedicht aus acht gleich aufgebauten Strophen zu jeweils sechs Versen. Es besitzt kein regelmäßiges Reimschema, was die dunkle, unrhythmische und unvorhersehbare Realität des lyrischen Ichs widerspiegelt. Die Sprache ist einfach und direkt, ohne Verwendung von verklärenden oder euphemistischen Ausdrücken. Außerdem nutzt der Dichter Allegorien und Metaphern, um seine Kritik ausdrucksstark zu verbalisieren. Beispielsweise wird der Staatsanwalt als Satan dargestellt, der den Mann der schwangeren Frau inhaftiert hält. Diese Darstellung bringt die Unmenschlichkeit und die Grausamkeit der Autorität auf den Punkt.

Insgesamt ist das Gedicht eine starke Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit und der autoritären Machtausübung in den politischen Verhältnissen, unter denen Henckell und seine Mitbürger zu leiden hatten.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Majestätsbeleidigung“ ist Karl Henckell. Der Autor Karl Henckell wurde 1864 in Hannover geboren. 1886 ist das Gedicht entstanden. München ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Realismus oder Naturalismus zuordnen. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 275 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 48 Versen mit insgesamt 8 Strophen. Weitere Werke des Dichters Karl Henckell sind „Christnacht“, „Der Korpsbursch“ und „Der rote Vogel“. Zum Autor des Gedichtes „Majestätsbeleidigung“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 21 Gedichte vor.

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