Madera von Johann Gottfried Herder
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Und zum Schlusse dieses Festes |
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Kosten wir ein Glas Madera. |
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Süß und traurig: zum Gedächtniß |
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Aller unglückselgen Liebe. |
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Robert Machin, Anna d'Arfet, |
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Er, ein edler Britten-Jüngling. |
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Sie, die Tochter stolzer Eltern, |
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Beide liebten sich, doch traurig. |
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Hingeworfen ins Gefängniß |
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Von des Mädchens stolzen Eltern |
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Schmachtete der edle Machin; |
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Doch sein Herz blieb unverändert. |
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Und des jungen Mannes Freunde |
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Rüsten ihm ein Schif am Ufer, |
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Führen Robert aus dem Kerker, |
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Ihm die Braut in seine Arme. |
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Willig folget ihm die treue |
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Anna d’Arfet in die Wellen. |
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Liebe Wellen, rauschet glücklich! |
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Fahret wohl, geliebte Beide! |
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Hin nach Frankreichs holdem Ufer |
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Steuern sie mit Macht und Kräften; |
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Doch die Küste schwindet traurig, |
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Traurig seufzen alle Winde. |
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Dreizehn lange Tag’ und Nächte |
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Schweben sie auf ofnem Meere; |
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Ohne Weg’ und ohne Rettung, |
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Rette sie, geliebte Liebe! |
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Da ging ihnen auf der Freude, |
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Auf der Hoffnung Morgenröthe; |
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Sieh, ein nahes schönes Eiland, |
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Namlos — jetzo heißt’s Madera. |
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Neue Vögel, neue Bäume, |
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Schöne Thäler, holde Hügel |
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Locken freundlich sie zur Küste, |
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Fliegen freundlich um ihr Segel. |
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»Ach, es ist der Sitz der Liebe |
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Spricht das freudetrunkne Mädchen |
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Mitten unter wilden Wellen |
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Uns vom Himmel zubereitet. |
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Ferne von Europa’s Ufer, |
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Von dem unglückselgen Ufer |
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Eine der glückselgen Inseln |
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Aus den alten Fabelzeiten.« |
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Und sie steigen aus zum Lande |
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Grüssend die geliebte Küste. |
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Die krystallne Wasserwoge |
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Kömmt, und spielt um ihre Füße. |
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Wilde Thiere kommen schmeichelnd, |
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Huldigend dem Königspaare; |
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Tausend Nachtigallen singen |
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Ihnen Lobgesang der Liebe. |
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Und sie finden ein verborgnes |
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Schönes Thal, von dichten Bäumen |
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Rings umschattet, wie ein Tempel, |
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Wie ein Paradies der Liebe. |
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»Hier, Geliebter, spricht das Mädchen, |
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In dem Tempel laß uns wohnen; |
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Unter diesem heilgen Baume |
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Laß uns liebvereinet sterben!« |
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Und ein böses Schicksal hörte |
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Den schuldlosen Wunsch der Schönen; |
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Wütend kam ein harter Sturmwind, |
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Und riß los das Schiff vom Ufer, |
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Riß es in die wilden Wellen, |
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Stieß es an Marokko’s Küste; |
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(Alle armen Christenseelen |
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Wurden da der Mohren Sklaven.) |
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Leidend sah das weiche Mädchen |
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Ihrer treuen Freunde Schicksal. |
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Sah allein sich auf der Insel, |
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Sah den Vielgeliebten traurig — |
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»Unter diesem heilgen Baume |
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Will ich ruhn, des Lebens müde!« |
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Schlang um ihn die festen Arme, |
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Und verschied am dritten Tage; |
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Ihr und sich erbaut der müde |
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Robert nun fortan ein Grabmahl |
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Unter dem geliebten Baume, |
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Und verschied am fünften Tage |
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Eine Tafel auf dem Grabe |
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Nannte ihrer beider Namen; |
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Sprach, erzählend die Geschichte. |
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Sprach mit ilehnden Worten also: |
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»Wenn einst dieses schöne Eiland |
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Je ein Christenpilgrim findet, |
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O! so weih’ er unserm Grabe |
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Eine Thrän’ und einen Tempel.« |
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Als darauf nach manchen Jahren |
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Don Gonsalvo und Morales |
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Wiederfanden diese Insel, |
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Und auf ihr das Grab der Liebe, |
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Weihten sie dem treuen Paare |
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Ein Gebet und einen Tempel; |
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Jesustempel heißt das Grabmahl, |
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Und der Hafen heißt Machino. |
Details zum Gedicht „Madera“
Johann Gottfried Herder
24
96
457
1796
Sturm & Drang,
Klassik
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Madera“ stammt von Johann Gottfried Herder, einem der wichtigsten deutschen Dichter und Philosophen der Epoche der Aufklärung und der Weimarer Klassik. Entstanden ist das Gedicht vermutlich im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert.
Mein erster Eindruck beim Lesen des Gedichts ist, dass es eine tragische Liebesgeschichte erzählt. Es ist eine Erzählung in Versform, die melodisch und bildhaft erzählt wird. Der Mischung aus trauriger und glücklicher Liebe, dem Kampf gegen widrige Umstände und letztendlich einer tragischen Grunderfahrung und Bestimmung, gibt dem Gedicht eine emotional dichte Atmosphäre.
Im Gedicht wird die Liebesgeschichte von Robert Machin und Anna d'Arfet geschildert. Beide sind voneinander entzweit, weil ihre Eltern dagegen sind. Sie entscheiden sich zu fliehen und nach vielen Tagen und Nächten auf See finden sie eine unbewohnte Insel, die sie Madera nennen. Dort leben sie glücklich, bis ein Sturm ihr Schiff mitnimmt und Anna alleine zurücklässt. Sie stirbt und Robert errichtet ein Grabmal für sie, bevor er selbst stirbt. Die letzte Bitte der Liebenden ist, dass, wenn je ein Christ das Grab findet, er es mit einer Träne und einem Tempel weihen möge. Jahre später findet Don Gonsalvo die Insel und das Grab, weiht es und benennt den Hafen nach Machin.
Das lyrische Ich möchte durch seine Erzählung eine Hommage an die unglückliche Liebe und Aspekte der Romantik, wie Idealismus, Naturverehrung und Individualismus, darstellen. Gleichzeitig ist das Gedicht eine Kritik an gesellschaftlichen Normen und Eltern, die die Liebe ihrer Kinder unterdrücken.
In Bezug auf Form und Sprache zeigt das Gedicht eine konsequente Reimstruktur und eine klare, leicht verständliche Sprache. Es besteht aus 24 vierzeiligen Strophen, die in Reimpaaren (aabb) strukturiert sind. Die Erzählung ist linear aufgebaut und schildert verschiedene Handlungsabschnitte, wobei jede Strophe einen Teil der Geschichte erzählt. Herders Sprache ist präzise und detailreich, was eine emotionale und visuelle Intensität erzeugt, die die Leser in die Geschichte hineinzieht. Insgesamt ist „Madera“ eine bewegende literarische Darstellung von tragischer Liebe und Verehrung der Natur, die den Geist der Romantik in Versform einfängt.
Weitere Informationen
Das Gedicht „Madera“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Johann Gottfried Herder. Im Jahr 1744 wurde Herder in Mohrungen (Ostpreußen) geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1796 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Neustrelitz. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zu. Der Schriftsteller Herder ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.
Die Epoche des Sturm und Drang ist eine Strömung in der deutschen Literaturgeschichte, die häufig auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet wird. Die Epoche ordnet sich nach der Literaturepoche der Empfindsamkeit und vor der Klassik ein. Sie lässt sich auf die Zeit zwischen 1765 und 1790 eingrenzen. Der Literaturepoche des Sturm und Drang geht die Epoche der Aufklärung voran. Die Ideale und Ziele der Aufklärung wurden verworfen und es begann ein Auflehnen gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig Schriftsteller im jungen Alter, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Die Schriftsteller versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden dennoch geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Schiller, Goethe und natürlich die anderen Autoren jener Zeit suchten nach etwas Universalem, was in allen Belangen und für jede Zeit gut sei und entwickelten sich stetig weiter. So ging der Sturm und Drang über in die Weimarer Klassik.
Prägend für die Literatur der Weimarer Klassik war die Französische Revolution. Menschen setzten sich dafür ein, dass für alle die gleichen Rechte gelten sollten. Der Beginn der Weimarer Klassik ist im Jahr 1786 auszumachen. Die Literaturepoche endete im Jahr 1832 mit dem Tod Goethes. Wie der Name bereits verrät, liegen das literarische Zentrum und der Ausgangspunkt der Weimarer Klassik, die auch kurz Klassik genannt wird, in Weimar. Teilweise wird auch Jena als ein weiteres Zentrum der Literaturepoche angesehen. Die Klassik geht von der Erziehbarkeit des Individuums zum Guten aus. Ihr Ziel ist die Humanität, die wahre Menschlichkeit (das Schöne, Gute, Wahre). Die Autoren der Klassik gingen davon aus, dass Gott den Menschen Vernunft und Gefühle gibt und die Menschen damit dem Leben einen Sinn geben. Der Mensch ist also von höheren Mächten bestimmt. Ein hohes Sprachniveau ist für die Werke der Weimarer Klassik charakteristisch. Während man im Sturm und Drang die natürliche Sprache wiedergeben wollte, stößt man in der Weimarer Klassik auf eine reglementierte Sprache. Die berühmtesten Schriftsteller der Weimarer Klassik sind: Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.
Das Gedicht besteht aus 96 Versen mit insgesamt 24 Strophen und umfasst dabei 457 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Gottfried Herder sind „An den Schlaf“, „An die Freundschaft“ und „Apollo“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Madera“ weitere 413 Gedichte vor.
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Zum Autor Johann Gottfried Herder sind auf abi-pur.de 413 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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