Loke der Lästerer von Richard Dehmel

Nach August Strindberg.
 
Götter der Zeit, ich schmähte gestern,
und schmähen will ich euch auch heut,
Götter der Zeit, euch ewig lästern,
hört mein lachendes Lästergeläut!
 
Ihr führt die Macht, ich führe Klage,
ich führe das Wort in meiner Macht!
Dreizehn liegt ihr beim Gelage;
das bedeutet Totenwacht,
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Unfall, Hinfall – singt die Sage.
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Götter, nehmt euch bald in Acht!
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sehr schnell eilen die lustigen Tage,
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Götter, Götter, und Loke lacht!
 
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Ja, ich saß in jüngeren Stunden
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zu Gast in eurem Göttersaal:
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an dem Strick, den ihr gebunden,
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hingeschleift zu euerm Mahl.
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Darum: eure eiternden Wunden,
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Loke kennt, kennt ihre Zahl!
 
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Ekel fühlt’ich vor den vollen Gefäßen,
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und euer Wein war ekler noch;
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euer Singsang verdarb mir das Essen,
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der fad wie dünne Brühe roch.
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Drum: das könnt ihr Loke nicht vergessen,
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daß er nicht lobkrähend vor euch kroch.
 
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Nein, ich will kein Loblied krähen,
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will nicht singen für euern Fraß;
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nein, ich will euch lieber schmähen
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mit meinem großen, schönen Haß!
 
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Meine Sehnen habt ihr mir zerstochen,
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mich geschmiedet auf dies Gletscherjoch,
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mir die Zähne ausgebrochen,
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aber meine Zunge lästert doch!
 
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Ja: ich habe eure Schmach verraten,
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Götter – das war all mein Fehl!
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eure heiligen Gräuelthaten,
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eurer festen Schlösser Sündenhehl.
 
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Drum heißt Loke der Erste der Hasser,
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der Lästerer Erster in euerm Lied;
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ja, es ehrt, es ehrt ihn, daß er
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Verräter verriet!
 
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Wenn den Gewaltigen straft der Schwache,
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dann heißt die Strafe Rachewut.
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Sei’s! Ja, Götter: ich übte Rache,
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hört es, Rache – und rächte gut!
 
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Habe erbrochen die Bundeslade,
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habe den Moder ans Licht gekarrt,
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euch abgerissen die Maskerade
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und eure Nacktheit offenbart.
 
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Habe euern Götzendienst verachtet,
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von euren Bildern den Flitter geklopft,
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habe das goldne Kalb geschlachtet,
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sah das Stroh, womit es ausgestopft.
 
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Habe gerächt, du alte Götterhure,
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gerächt all meiner Jugend Weh,
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als ich knien gemußt zum eklen Schwure
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und dir Weihrauch streun, du Afterfee!
 
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Ja: mein Wahrheitswort, das lachte
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ins Gesicht dem Götterpack,
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daß ihr Schloß und Tempel krachte –
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hah, wie rannte das Köterpack,
 
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die Göttervetteln, die Götterpinsel:
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Der knöpfte die Hosen zu, Die nahm
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die Unterröcke mit Gewinsel
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vor die welke, verschrumpfte Scham.
 
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Aber die Lüge ging zum Pfuhle
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und fischte Nattern im dumpfen Hain;
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die ließ die tückische Götterbuhle
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Gifte in Loke’s Antlitz spein.
 
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Und dann schlugen sie Loke in Ketten,
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Hundert gegen Einen war die That;
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doch – in ihren Götterlotterbetten
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schrein sie doch von Hochverrat.
 
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Ja, in Ketten liegt er auf der Klippe,
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aber seine Zunge ist noch frei,
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und die alten Göttergerippe
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zittern noch von seinem Geschrei.
 
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In den langen Nächten seiner Qualen
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sitzt an seinem harten Bett sein Weib,
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schützt ihm liebreich mit krystallnen Schalen
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vor dem Natterneiter seinen Leib.
 
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Wenn dann die tückischen Vipernrotten
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beißen wollen die treue Hand,
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dann hört Loke auf zu spotten:
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wie der Sturm dann bricht sein Zorn ins Land.
 
86 
Wenn er seine Ketten schüttelt,
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dröhnen die Berge und das Feld;
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in Hütten und Burgen, wachgerüttelt,
89 
ahnt man bebend das Ende der Welt.
 
90 
Da hört Loke auf zu lästern,
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sondern aus den düstern Augen drohn
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sengende Blitze den Götternestern,
93 
und er ruft nach seinem Sohn.
 
94 
Der Midgardsdrache, der Weltzerstörer,
95 
dann läßt er rasseln sein Schuppenfell
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und reckt den Schwanz, der Weltempörer,
97 
hinten am wilden Wolgaquell.
 
98 
Und es prasseln und knacken und splittern
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die Forsten im Wolkonskywald,
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und die Pyrenäen zittern,
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wo sein Bauch sich zuckend ballt.
 
102 
Aber die Brust zerpeitscht zu Schäumen
103 
der Seine alte, heilige Flut,
104 
deren Ufer noch glühn und träumen
105 
von Erlösung und von Blut.
 
106 
Aber: wo der Drache das Haupt geborgen,
107 
fragen die feigen Götter und schrein.
108 
Ewig folgt auf heute morgen;
109 
mein Bescheid wird euer Gestern sein!
 
110 
Denn wenn Er sein Haupt erhebt zur Rache,
111 
Götter, aus ist dann die Zeit!
112 
Wißt ihr, wenn erst zischt der Drache,
113 
wird euch nie mehr Unheil prophezeit!
 
114 
Dann erliegt die Welt dem Brande,
115 
der verbrennt, was brennen soll,
116 
der das Gold befreit vom Schlackensande,
117 
der verschont, was lebensvoll.
 
118 
Und der alte, dürre Norden,
119 
dann vom Feuer reingeglüht,
120 
fruchtbar Ascheland geworden,
121 
saamt sich neu, gebärt und blüht.
 
122 
Dann, in ewig grünen Hainen,
123 
neu geboren, lebt ein frei Geschlecht,
124 
nicht verkrümmt von heiligen Gängelleinen,
125 
Keiner mehr ein Götterknecht.
 
126 
Götter, wenn sich dann die Raben
127 
um eure Gräber tummeln auf der Flur,
128 
keine Thräne wird dann Loke haben,
129 
seine ewig junge Hoffnung nur!
 
130 
Ja: sein Gelächter fiel gleich Steinen
131 
schwer in eure Götterruh,
132 
denn er glaubt an jenen seinen Einen,
133 
nicht an Euer Blindekuh.
 
134 
Doch euren Gräbern lacht sein Geläute
135 
wie Freundesworte: Götter der Zeit,
136 
ruhet in Frieden ... aber heute
137 
leben die Götter der Ewigkeit!

Details zum Gedicht „Loke der Lästerer“

Anzahl Strophen
33
Anzahl Verse
137
Anzahl Wörter
751
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Loke der Lästerer“ stammt von dem deutschen Dichter Richard Dehmel, der von 1863 bis 1920 lebte. Dehmel ist einer der Hauptvertreter der deutschen Dichtung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sein Schreiben ist deutlich vom Realismus geprägt, zeichnet sich aber auch durch eine starke lyrische Dimension aus.

Auf den ersten Blick handelt das Gedicht von der göttlichen Figur „Loke“, die im nordischen Glauben von den anderen Göttern verachtet und verspottet wird, weil er immer wieder gegen die Normen und Regeln ihrer Gesellschaft verstößt. Dehmel spielt geschickt mit dieser Legende und schafft ein Bild des Widerstands und der Revolution.

Inhaltlich drückt das Gedicht einen starken Hass und Unzufriedenheit gegen die Götter der Zeit, symbolische Vertreter der herrschenden Mächte und Institutionen, aus. Das lyrische Ich positioniert sich gegen diese Mächte und erhebt eine lautstarke, oft sarkastische und spottende, Kritik gegen sie. Es weigert sich, sie zu verehren oder gar an sie zu glauben. An die Stelle der alten, verhassten Götter, stellt das lyrische Ich die „Götter der Ewigkeit“, eine bessere, gerechtere und ewige Ordnung, die noch kommen wird.

Formal handelt es sich bei dem Gedicht um ein lyrisches Drama in freien Versen. Die Verse sind unterschiedlich lang und das Reimschema ist unregelmäßig. Diese freie Form unterstützt die rebellischen und widerständigen Themen des Gedichts. Die Sprache ist stark, kraftvoll und zumeist in hohem Ton gehalten, was die eindringliche Botschaft des Gedichts noch betont.

Insgesamt ist „Loke der Lästerer“ ein gedichtlicher Protest gegen etablierte Machtstrukturen und Normen und ein lobgesang auf den zukünftigen Umsturz und die Schaffung einer neuen, gerechteren Ordnung. Dehmel bedient sich dabei geschickt der Symbolik und des Mythos der nordischen Götter und Figur Loke's.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Loke der Lästerer“ des Autors Richard Dehmel. Im Jahr 1863 wurde Dehmel in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1893 entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Moderne zuordnen. Der Schriftsteller Dehmel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 751 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 137 Versen mit insgesamt 33 Strophen. Die Gedichte „Chinesisches Trinklied“, „Dann“ und „Das Gesicht“ sind weitere Werke des Autors Richard Dehmel. Zum Autor des Gedichtes „Loke der Lästerer“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

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