Lied des vogelfreien Dichters von Richard Dehmel

Ich sterbe dürstend an der vollen Quelle;
ich, heiß wie Glut, mir zittert Zahn an Zahn.
Frostklappernd sitz’ich an der Feuerstelle,
in meinem Vaterland ein fremder Mann.
Nackt wie ein Wurm, geschmückt wie Tamerlan,
lach ich in Thränen, hoffe voller Leid
und schöpfe Trost aus meiner Traurigkeit,
ein Mann voll Macht, ein Mann in Acht und Bann,
und meine Not ist meine Seligkeit:
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ich, hoch geliebt, geflohn von Jedermann.
 
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Nichts ist mir sicher als das nie Gewisse
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und dunkel nur, was allen Andern klar,
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und fraglich Nichts als das für sie Gewisse,
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denn nur der Zufall meint es mit mir wahr.
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Gewinner stets, verspiel’ich immerdar;
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mein Frühgebet: Gott, mach den Abend gut!
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Im Liegen vor dem Fallen auf der Hut,
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bin reich ich, der ich nichts verlieren kann,
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und hoff’ auf Erbschaft, ich, ein rechtlos Blut –
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ich, hoch geliebt, geflohn von Jedermann.
 
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Nichts macht mir Sorge als mein bös Begehren
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nach Glück und Gut, doch pfeif ich drauf zumeist.
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Wer auf mich schimpft, thut mir die größten Ehren;
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der Wahrste ist, wer mich mit Lügen speist.
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Mein Freund ist, wer mir klipp und klar beweist:
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ein grauer Kater ist ein bunter Pfau.
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Und wer mir schadet, lehrt mich: du, Dem trau!
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Wahrheit, Lug-Trug, mir Alles Eins fortan;
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begreif ich’s nicht, behalt ich’s nur genau!
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ich, hoch geliebt, geflohn von Jedermann.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.3 KB)

Details zum Gedicht „Lied des vogelfreien Dichters“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
30
Anzahl Wörter
224
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Lied des vogelfreien Dichters“ ist von Richard Dehmel, einem deutschen Dichter aus dem Fin de Siècle rund um die Jahrhundertwende vom 19. Zum 20. Jahrhundert. Es handelt sich hierbei um eine Zeit des Umbruchs, in der alte Normen und Werte infrage gestellt wurden und die Suche nach neuen Ausdrucksformen im Vordergrund stand.

Beim ersten Lesen fällt sofort auf, dass sich das lyrische Ich in einer Krisensituation befindet, es fühlt sich ver- und ausgestoßen, einsam, aber durch die Distanz zu den anderen auch privilegiert. Die mehrfach wiederholte Formulierung „ich, hoch geliebt, geflohn von Jedermann“ stellt einen scheinbaren Widerspruch dar und drückt die Zerrissenheit des lyrischen Ichs aus.

Inhaltlich geht es in Dehmels Gedicht um Einsamkeit, Verbannung und Entfremdung, aber auch um Autonomie und Individualität. Die Rivalität zwischen dem Individuum und der sozialen Umwelt wird in kraftvollen und bildhaften Ausdrücken zum Ausdruck gebracht. Einerseits leidet der Sprecher unter der sozialen Isolation, andererseits zieht er eine Art Stolz und Stärke daraus.

Das Gedicht besteht aus drei Strophen zu jeweils zehn Versen. Dehmel verwendet eine abwechslungsreiche und starke Sprache, die extreme Gegensätze und Widersprüche in den einzelnen Versen widerspiegelt und somit die innere Konfliktsituation des lyrischen Ichs verdeutlicht. Hinweise darauf sind die Formulierungen „dürstend an der vollen Quelle“, „Nackt wie ein Wurm, geschmückt wie Tamerlan“, „meine Not ist meine Seligkeit“.

Zusammenfassend drückt Dehmels Gedicht die Spannungen eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebenden Künstlers aus. Einerseits sehnt sich das lyrische Ich nach Zugehörigkeit und Anerkennung, andererseits findet es in der gesellschaftlichen Randposition und dem damit verbundenen Freiraum einen Zugang zu Authentizität und künstlerischer Produktion. Es ist ein sehnsüchtiger und gleichzeitig rebellischer Ruf nach individueller Freiheit und Unabhängigkeit.

Weitere Informationen

Richard Dehmel ist der Autor des Gedichtes „Lied des vogelfreien Dichters“. Geboren wurde Dehmel im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1893 zurück. München ist der Erscheinungsort des Textes. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Dehmel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 30 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 224 Worte. Der Dichter Richard Dehmel ist auch der Autor für Gedichte wie „Bastard“, „Bitte“ und „Büßende Liebe“. Zum Autor des Gedichtes „Lied des vogelfreien Dichters“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 522 Gedichte vor.

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