Lied der Gehenkten von Richard Dehmel

O Mensch, o Bruder, machst du hier einst Rast,
verhärte nicht dein Herz vor unsrer Pein;
denn wenn du Mitleid mit uns Armen hast,
wird Gott der Herr dir einst gewogen sein.
Hier hängen wir, so stücker acht auch neun;
ach, unser Fleisch, einst unser liebst Ergetzen,
jetzt ist es längst verfault und hängt in Fetzen,
samt unsern Knochen fast zu Staub zerfallen.
Doch wolle Keiner seinen Witz dran wetzen –
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nein: bittet Gott, daß er verzeih uns Allen!
 
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Mißachte, Bruder, nicht dies unser Flehn;
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du weißt ja, der du unser Bruder bist,
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obgleich uns nach Gesetz und Recht geschehn,
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daß nicht ein jeder Mensch vernünftig ist.
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Verwende dich von Herzen als ein Christ
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beim Sohn der Jungfrau, daß er seine Gnade,
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da wir nun tot sind, auch auf uns entlade
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und uns behüte vor des Satans Krallen;
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die Seele, Bruder, stirbt nicht mit am Rade –
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ja: bittet Gott, daß er verzeih uns Allen!
 
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Sturzregen haben unsern Leib zerspült,
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die Sonne uns geschwärzt und ausgedörrt,
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Kräh’n, Raben uns die Augen ausgewühlt,
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uns Bart und Brauen aus der Haut gezerrt;
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niemals, kein Stündchen Ruh am warmen Herd;
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nur wipp und wapp, und immer wippwapp wieder,
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umschwärmt von Kräh’n, die Winde um die Glieder,
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zerhackt, zerlöcherter als Hosenschnallen!
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Ja: vor Uns Brüdern seid ihr sicher, Brüder;
30 
doch – bittet Gott, daß er verzeih uns Allen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.2 KB)

Details zum Gedicht „Lied der Gehenkten“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
30
Anzahl Wörter
223
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Lied der Gehenkten“ wurde von Richard Dehmel verfasst. Dehmel war ein deutscher Dichter und Schriftsteller, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert tätig war. Dieses Gedicht lässt sich also in die Epoche der Moderne einordnen.

Beim ersten Eindruck fällt besonders der leidvolle Tonfall des Gedichts auf. Es handelt von Toten, die gehängt wurden, und schildert anschaulich ihren Zustand und ihr Bitten um Vergebung.

Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit je zehn Versen. Jede Strophe beginnt mit der direkten Ansprache des lyrischen Ichs an einen „Bruder“ und endet mit der Bitte an Gott um Verzeihung. Dabei spricht das lyrische Ich aus der Perspektive der Gehängten und bittet um Mitleid und Vergebung. Es betont, dass trotz ihrer verfaulten Körper ihre Seelen nicht gestorben sind und gibt dabei angedeutet die menschliche Natur zu erkennen: nicht jeder Mensch ist vernünftig, und Gesetz und Recht trafen sie hart. Der wiederholte Appell an Gott um Vergebung weist jedoch auf einen christlichen Kontext hin und erinnert an die christliche Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung.

Das Gedicht ist in einer relativ einfachen und direkten Sprache verfasst, allerdings mit einer starken emotionalen Wirkung. Die Verse sind meist in Kreuzreimen verfasst, wodurch der Inhalt gut in Erinnerung bleibt.

Insgesamt ist das „Lied der Gehenkten“ ein tief bewegendes Gedicht, das das Schicksal der Gehängten eindrucksvoll darstellt und dabei wichtige christliche Themen wie Sünde, Vergebung und Erlösung aufgreift. Die stark bildliche Beschreibung der körperlichen Verfassung der Gehängten und die Wiederholung des Bittens um Vergebung erzeugen Mitleid und Mitgefühl bei den Lesenden und laden dazu ein, über Themen wie Schuld, Buße und Gnade nachzudenken.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Lied der Gehenkten“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Der Autor Richard Dehmel wurde 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1893 zurück. München ist der Erscheinungsort des Textes. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Bei Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 223 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 30 Versen mit insgesamt 3 Strophen. Der Dichter Richard Dehmel ist auch der Autor für Gedichte wie „Auf der Reise“, „Aufblick“ und „Ballade vom Volk“. Zum Autor des Gedichtes „Lied der Gehenkten“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

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