Liebe und Gegenliebe von Johann Gottfried Herder

Als einst die Mutter der Anmuth
Den Knaben Amor gebar,
Bekränzt’ er, ein einziges Söhnchen,
Mit Rosen sein lockiges Haar.
 
Er schuf nur Quaalen den Herzen;
Die zarte, süßere Pflicht,
Mit Liebe Liebe zu lohnen,
Die kannte der Flüchtige nicht.
 
Und manche beleidigte Göttinn
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Und mancher beleidigte Gott,
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Sie zürnten alle dem Knaben
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Und schuffen ihm Flügel zum Spott.
 
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Bis einst die himmlische Liebe
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Ein schöneres Mittel ersann;
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Sie ward zur Welle des Meeres
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Und blickte den Lieblichen an.
 
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Er sieht im Meere sein Bildniß,
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Und wird von Liebe beseelt;
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Und fühlt nun selber die Schmerzen,
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Mit denen er andre gequält.
 
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Umfangen will er das Wahnbild,
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Ihm in der Welle so nah;
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Und sieh! sein schönerer Bruder
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Steht vor dem Liebenden da.
 
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„Wer bist du?“ spricht er verwirret.
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„Du selbst, dein Bruder bin ich.
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Laß uns versuchen im Kampfe;
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Vielleicht besiegest du mich.“ –
 
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Und seitdem ringen die Beide,
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Der Liebe mächtigen Streit;
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Wo Einer Herzen verwundet,
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Ist nie der Andere weit.
 
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Wo reine himmlische Liebe
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Hinschaut mit schaffendem Blick;
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Da kommt vom Bilde des Anschauns
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Ihr Gegenliebe zurück.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Liebe und Gegenliebe“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
36
Anzahl Wörter
178
Entstehungsjahr
1787
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Liebe und Gegenliebe“ wurde von Johann Gottfried Herder verfasst, einem der wichtigsten Vertreter der Weimarer Klassik und Philosophen der Aufklärung. Dieses literarische Werk stammt aus dem 18. Jahrhundert und es gilt als typisches Beispiel für die Poesie der Sturm-und-Drang-Zeit.

Auf den ersten Blick handelt das Gedicht von den Figuren der griechischen Mythologie, namentlich Amor und verschiedene Götter. Es erzählt die Geschichte der Geburt von Amor und seiner Verwandlung. Das lyrische Ich schildert, wie Amor zunächst nur Leid verursacht, da er keine Vorstellung davon hat, was Liebe wirklich ist.

Im Laufe des Gedichts wird dargestellt, wie Amor schließlich die Liebe entdeckt und selbst unter der Macht der Gefühle leidet. Darüber hinaus wird das Thema der Gegenseitigkeit der Liebe spielerisch angesprochen. Diese Entwicklung wird illustriert mit der Verwandlung der „himmlischen Liebe“ in eine Meereswelle, die Amor zwingt, sich selbst ins Auge zu sehen und eine Bruderfigur zu entdecken. Durch diese Metapher der Selbstreflektion durch den Spiegel der Meereswellen, wird die Fähigkeit zur Empathie und zur Gegenliebe symbolisiert.

Das Gedicht verfügt über eine einfache und dennoch wirkungsvolle Versstruktur. Es besteht aus Neun vierzeiligen Strophen. Die Sprache ist klar und unverschnörkelt, was typisch für Herders Dichtung ist. Es wird viel Symbolik und Bildsprache verwendet, um das Thema der Liebe und der Gegenliebe zu veranschaulichen.

In der Gesamtbetrachtung kann man sagen, dass Herder mit diesem Gedicht die Wichtigkeit der Gegenseitigkeit in der Liebe darstellen wollte. Es zeigt auf eindringliche Weise, dass Liebe nicht nur darin besteht, andere zu lieben, sondern auch geliebt zu werden und die Fähigkeit, das Du zu reflektieren. Es ist ein leidenschaftlicher Aufruf zu mehr Empathie und Respekt in zwischenmenschlichen Beziehungen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Liebe und Gegenliebe“ des Autors Johann Gottfried Herder. Geboren wurde Herder im Jahr 1744 in Mohrungen (Ostpreußen). Das Gedicht ist im Jahr 1787 entstanden. In Gotha ist der Text erschienen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Herder handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Als Sturm und Drang (auch Genieperiode oder Geniezeit) bezeichnet man eine Epoche der Literatur, die auf die Jahre 1765 bis 1790 datiert werden kann. Sie knüpfte an die Empfindsamkeit an und ging später in die Klassik über. Der Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich darüber hinaus auch gegen das Bürgertum, das als eng und freudlos galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest der Epoche des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Bei den Schriftstellern handelte es sich meist um Autoren jüngeren Alters. Meist waren sie unter 30 Jahre alt. Die Schriftsteller versuchten in den Dichtungen eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die traditionellen Werke vorheriger Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Dennoch wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Mit dem Hinwenden Goethes und Schillers zur Weimarer Klassik endete der Sturm und Drang.

Die Weimarer Klassik ist eine Epoche der deutschen Literaturgeschichte, die von zwei bedeutenden Dichtern geprägt wurde: Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Die Literaturepoche beginnt im Jahr 1786 mit Goethes Italienreise und endet im Jahr 1832 mit dem Tod Goethes. Es gibt aber auch zeitliche Eingrenzungen, die das gemeinsame Schaffen der beiden befreundeten Dichter Goethe und Schiller von 1794 bis zu Schillers Tod 1805 als Weimarer Klassik zeitlich festlegen. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. Zu den wichtigsten Motiven der Klassik gehören unter anderem Toleranz und Menschlichkeit. In der Klassik wird eine einheitliche, geordnete Sprache verwendet. Kurze, allgemeingültige Aussagen sind häufig in Werken der Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, setzte man großen Wert auf formale Ordnung und Stabilität. Metrische Ausnahmen befinden sich oftmals an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Schiller, Goethe, Herder und Wieland können als die Hauptvertreter der Weimarer Klassik genannt werden. Aber nur Goethe und Schiller inspirierten und motivierten einander durch eine intensive Zusammenarbeit und wechselseitige Kritik.

Das vorliegende Gedicht umfasst 178 Wörter. Es baut sich aus 9 Strophen auf und besteht aus 36 Versen. Die Gedichte „An die Freundschaft“, „Apollo“ und „Bilder und Träume“ sind weitere Werke des Autors Johann Gottfried Herder. Zum Autor des Gedichtes „Liebe und Gegenliebe“ haben wir auf abi-pur.de weitere 413 Gedichte veröffentlicht.

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