Leichenwäsche von Rainer Maria Rilke
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Sie hatten sich an ihn gewöhnt. Doch als |
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die Küchenlampe kam und unruhig brannte |
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im dunkeln Luftzug, war der Unbekannte |
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ganz unbekannt. Sie wuschen seinen Hals, |
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und da sie nichts von seinem Schicksal wußten, |
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so logen sie ein anderes zusamm, |
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fortwährend waschend. Eine mußte husten |
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und ließ solang den schweren Essigschwamm |
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auf dem Gesicht. Da gab es eine Pause |
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auch für die zweite. Aus der harten Bürste |
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klopften die Tropfen; während seine grause |
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gekrampfte Hand dem ganzen Hause |
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beweisen wollte, daß ihn nicht mehr dürste. |
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Und er bewies. Sie nahmen wie betreten |
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eiliger jetzt mit einem kurzen Huster |
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die Arbeit auf, so daß an den Tapeten |
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ihr krummer Schatten in dem stummen Muster |
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sich wand und wälzte wie in einem Netze, |
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bis daß die Waschenden zu Ende kamen. |
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Die Nacht im vorhanglosen Fensterrahmen |
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zwar rücksichtslos. Und einer ohne Namen |
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lag bar und reinlich da und gab Gesetze. |
Details zum Gedicht „Leichenwäsche“
Rainer Maria Rilke
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22
147
1918
Moderne
Gedicht-Analyse
Das Gedicht „Leichenwäsche“, wurde von Rainer Maria Rilke geschrieben, einem der bedeutendsten lyrischen Autoren deutscher Sprache, welcher von 1875 bis 1926 lebte. Das Gedicht ist also zeitlich der Epoche des frühen 20. Jahrhunderts zuzurechnen.
Das Gedicht hinterlässt beim ersten Lesen einen eher düsteren, vielleicht sogar unheimlichen Eindruck. Der Titel selbst weist auf einen Tod und das Ritual der Leichenwäsche hin, das in vielen Kulturen üblich ist.
Im Gedicht beschreibt das lyrische Ich ein Szenario, in welchem offensichtlich eine oder mehrere Personen die Leichenwäsche eines Verstorbenen durchführen. Sie hatten sich an den Toten gewöhnt, doch im Licht der Küchenlampe erscheint er ihnen fremd und unbekannt. Die Frauen waschen den Körper und spekulieren über sein Schicksal, da sie nichts davon wissen. Eine Pause erfolgt, als eine der Frauen husten muss und den Schwamm auf dem Gesicht des Toten liegen lässt, dessen Hand sich krampft, um zu beweisen, dass er keinen Durst mehr hat.
Hinsichtlich der Form fällt die Aufteilung des Gedichts in fünf Strophen auf, wobei sich die Anzahl der Verse zwischen vier und fünf Versen variiert. Es gibt kein festes Reimschema, was ein typisches Merkmal der freien Lyrik Rilkes ist. Die Sprache des Gedichts ist klar und präzise, doch durch den Gebrauch metaphorischer Bilder, wie die „krummen Schatten“ und das „stumme Muster“, sowie die Erwähnung der „vorhanglosen Fensterrahmen“ verschafft Rilke der Szene eine Atmosphäre der Düsternis und des Unheimlichen.
Rilke thematisiert in seinem Gedicht den Tod und das Schweigen um ihn herum. Liegt der Tote erst rein gewaschen da, ist er derjenige, der Gesetze gibt - ein Hinweis darauf, dass der Tod das letzte und endgültige Gesetz des Lebens ist, dem keiner entkommen kann. Der Prozess der Leichenwäsche ist hier nicht nur ein physischer Akt der Reinigung, sondern auch als metaphysischer Akt der Auseinandersetzung mit dem Tod zu verstehen. Rilke stellt den Tod als etwas dar, das die sehr lebendigen, sich bewegenden und spekulierenden Frauen in Erstaunen und Stille versetzt.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Leichenwäsche“ des Autors Rainer Maria Rilke. Der Autor Rainer Maria Rilke wurde 1875 in Prag geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1918 entstanden. Erschienen ist der Text in Leipzig. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Rilke handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 147 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 22 Versen mit insgesamt 5 Strophen. Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Adam“, „Advent“ und „Allerseelen“. Zum Autor des Gedichtes „Leichenwäsche“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 338 Gedichte vor.
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