Legende von den drei Lebendigen und den drei Toten von Rainer Maria Rilke

Drei Herren hatten mit Falken gebeizt
und freuten sich auf das Gelag.
Da nahm sie der Greis in Beschlag
und führte. Die Reiter hielten gespreizt
vor dem dreifachen Sarkophag,
 
der ihnen dreifach entgegenstank,
in den Mund, in die Nase, ins Sehn;
und sie wußten es gleich: da lagen lang
drei Tote mitten im Untergang
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und ließen sich gräßlich gehn.
 
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Und sie hatten nur noch ihr Jagergehör
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reinlich hinter dem Sturmbandlör;
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doch da zischte der Alte sein:
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— Sie gingen nicht durch das Nadelöhr
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und gehen niemals — hinein.
 
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Nun blieb ihnen noch ihr klares Getast,
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das stark war vom Jagen und heiß;
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doch das hatte ein Frost von hinten gefaßt
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und trieb ihm Eis in den Schweiß.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Legende von den drei Lebendigen und den drei Toten“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
19
Anzahl Wörter
115
Entstehungsjahr
1918
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht ist von Rainer Maria Rilke und wurde vermutlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasst. Rilkes Gedichte sind oft geprägt von sinnstiftenden Bildern, die existenzielle Themen enträtseln und zur Reflexion anregen.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht düster und bedrückend. Die schwarze Romantik Rilkes ist deutlich zu spüren.

Inhaltlich handelt das Gedicht von drei Herren, die gerade von der Jagd kommen und auf feucht-fröhliche Feierlichkeiten eingestellt sind. Sie werden jedoch von einem alten Mann („der Greis“) gestört, der sie zu einem Dreifach-Sarkophag führt, in dem drei schrecklich zugerichtete Tote liegen. Der alte Mann sagt den Herren, dass die Toten nie durch das „Nadelöhr“ gegangen sind, sprich, sie haben nicht auf ihre Taten zurückgeblickt und Buße getan. Die sich auf die Vergnügungen des Lebens konzentrierenden Herren gleichen plötzlich Toten, gefroren in dem Schock ihrer eigenen Vergänglichkeit.

Rilkes lyrisches Ich scheint die Auffassung zu vertreten, dass es eine Form der Gerechtigkeit gibt, die über die Vergänglichkeit des materiellen Lebens hinausgeht. Die Konfrontation mit dem Tod führt zu einer existenziellen Krise und erfordert eine radikale Neubewertung des bisherigen Lebenswandels.

In Bezug auf Form und Sprache folgt das Gedicht keiner strikten Reimstruktur oder einem strengen Metrum, worin Rilkes Neigung zu Freirhythmen sichtbar wird. Die Sprache ist expressiv und bildreich, typisch für Rilkes Dichtkunst, mit der er sinnliche Erfahrungen und Erinnerungen evoziert und dabei existenzielle Themen, Höhen und Tiefen des menschlichen Seins unverblümt herausarbeitet. Der Gebrauch des Dialektausdrucks „Sturmbandlör“ für eine Art Ohrschutz verstärkt die authentische Atmosphäre und unterstreicht das prägende Erlebnis des lyrischen Ichs. Die Wiederholungen („dreifach“, „Drei Herren“, „drei Tote“) schaffen ein Gefühl von Unheil und Verhängnis, intensivieren die Stimmung und den Eindruck des Unvermeidlichen und überhöht zugleich die philosophischen und moralischen Implikationen des Gedichts. Gefroren in der mit Zwang und Druck assoziierten Szene, werden die Jäger auf eine metaphysische Dimension von Gerechtigkeit und Nachtaten gestoßen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Legende von den drei Lebendigen und den drei Toten“ des Autors Rainer Maria Rilke. Geboren wurde Rilke im Jahr 1875 in Prag. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1918 zurück. Leipzig ist der Erscheinungsort des Textes. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 115 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 19 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Der Dichter Rainer Maria Rilke ist auch der Autor für Gedichte wie „Adam“, „Advent“ und „Allerseelen“. Zum Autor des Gedichtes „Legende von den drei Lebendigen und den drei Toten“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 338 Gedichte vor.

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