Lebensmelodien von August Wilhelm Schlegel

Zieht nur gleiche Kreise, die verschweben,
Und mir schwindet nie im feuchten Spiegel
Der gebogne Hals und die Gestalt.
 
Der Adler.
 
Ich haus’ in den felsigen Klüften,
Ich braus’ in den stürmenden Lüften,
Vertrauend dem schlagenden Flügel
Bei Jagd und Kampf und Gewalt.
 
Der Schwan.
 
10 
Mich erquickt das Blau der heitern Lüfte,
11 
Mich berauschen süß des Kalmus Düfte,
12 
Wenn ich in dem Glanz der Abendröthe
13 
Weichbefiedert wiege meine Brust.
 
14 
Der Adler.
 
15 
Ich jauchze daher in Gewittern,
16 
Wenn unten den Wald sie zersplittern,
 
17 
Ich frage den Blitz, ob er tödte,
18 
Mit fröhlich vernichtender Lust.
 
19 
Der Schwan.
 
20 
Von Apollo’s Winken eingeladen,
21 
Darf ich mich in Wohllautströmen baden,
22 
Ihm geschmiegt zu Füßen, wenn die Lieder
23 
Tönend wehn in Tempe’s May hinab.
 
24 
Der Adler.
 
25 
Ich throne bey Jupiters Sitze;
26 
Er winkt, und ich hol’ ihm die Blitze,
27 
Dann senk’ ich im Schlaf das Gefieder
28 
Auf seinen gebietenden Stab.
 
29 
Der Schwan.
 
30 
Von der sel’gen Götterkraft durchdrungen,
31 
Hab’ ich mich um Leda’s Schooß geschlungen;
32 
Schmeichelnd drückten mich die zarten Hände,
33 
Als ihr Sinn in Wonne sich verlor.
 
34 
Der Adler.
 
35 
Ich kam aus den Wolken geschossen,
36 
Entriß ihn den blöden Genossen:
 
37 
Ich trug in den Klauen behende
38 
Zum Olymp Ganymeden empor.
 
39 
Der Schwan.
 
40 
So gebahr sie freundliche Naturen,
41 
Helena und euch, ihr Dioskuren,
42 
Milde Sterne, deren Brüdertugend
43 
Wechselnd Schattenwelt und Himmel theilt.
 
44 
Der Adler.
 
45 
Nun tränkt aus nektarischem Becher
46 
Der Jüngling die ewigen Zecher;
47 
Nie bräunt sich die Wange der Jugend,
48 
Wie endlos die Zeit auch enteilt.
 
49 
Der Schwan.
 
50 
Ahndevoll betracht’ ich oft die Sterne,
51 
In der Flut die tiefgewölbte Ferne,
52 
Und mich zieht ein innig rührend Sehnen
53 
Aus der Heimat in ein himmlisch Land.
 
54 
Der Adler.
 
55 
Ich wandte die Flüge mit Wonne,
56 
Schon früh zur unsterblichen Sonne,
 
57 
Kann nie an den Staub mich gewöhnen,
58 
Ich bin mit den Göttern verwandt.
 
59 
Der Schwan.
 
60 
Willig weicht dem Tod’ ein sanftes Leben;
61 
Wenn sich meiner Glieder Band’ entweben,
62 
Löst die Zunge sich: melodisch feyert
63 
Jeder Hauch den heil’gen Augenblick.
 
64 
Der Adler.
 
65 
Die Fackel der Todten verjünget:
66 
Ein blühender Phönix, entschwinget
67 
Die Seele sich frey und entschleyert,
68 
Und grüßet ihr göttliches Glück.
 
69 
Die Tauben.
 
70 
In der Myrten Schatten,
71 
Gatte treu dem Gatten,
72 
Flattern wir, und tauschen
73 
Manchen langen Kuß.
74 
Suchen und irren,
75 
Finden und girren,
76 
Schmachten und lauschen,
77 
Wunsch und Genuß!
 
78 
Venus Wagen ziehen
79 
Schnäbelnd wir im Fliehen,
80 
Unsre blauen Schwingen
81 
Säumt der Sonne Gold.
82 
O wie es fächelt,
83 
Wenn sie uns lächelt!
84 
Leichtes Gelingen!
85 
Lieblicher Sold!
 
86 
Wende denn die Stürme,
87 
Schöne Göttin! schirme
88 
Bey bescheidner Freude
89 
Deiner Tauben Paar!
90 
Laß uns beysammen!
91 
Oder in Flammen
92 
Opfre uns beyde
93 
Deinem Altar.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32 KB)

Details zum Gedicht „Lebensmelodien“

Anzahl Strophen
34
Anzahl Verse
93
Anzahl Wörter
426
Entstehungsjahr
1799
Epoche
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht trägt den Titel „Lebensmelodien“ und stammt aus der Feder von August Wilhelm Schlegel, der von 1767 bis 1845 lebte und mithin ein bedeutender Vertreter der deutschen Romantik war.

Beim ersten Lesen des Gedichts wird schnell klar, dass es eine Darstellung dreier unterschiedlicher Vögel ist: des Adlers, des Schwans und der Taube. Sie stehen allegorisch für verschiedene Lebensformen und -stile.

Das lyrische Ich übernimmt im Gedicht wechselnd die Perspektiven dieser Vögel, beginnend mit dem Adler - Symbolik für Stärke, Macht und königliches Auftreten. Der Adler thront bei Jupiters Sitze, holt ihm die Blitze und taucht sich nie in Staub. Dies zeigt das Selbstbild des lyrischen Ichs als stolzes, kämpferisches Wesen, das die Naturgewalten und das Göttliche vereint.

Es folgt die Perspektive des Schwans - ein Symbol für Schönheit, Anmut und Reinheit. Der Schwan wird von Apollo eingeladen, sich in Wohllautströmen zu baden und betrachtet nachdenklich die Sterne. Dies lässt das lyrische Ich als ein reflektierendes, friedliches und von Schönheit angezogenes Wesen erscheinen.

Zum Schluss spricht das lyrische Ich als Taube, die für Liebe, Treue und Frieden steht. Die Taube flattert treu an der Seite ihres Gatten und hofft auf den Schutz der Göttin Venus. Dieses Bild verdeutlicht das Verlangen des lyrischen Ichs nach Liebe, Zusammenhalt und Schutz.

August Wilhelm Schlegel benutzt in „Lebensmelodien“ eine präzise und lebendige Sprache, die mithilfe von starken Metaphern und bildlichen Darstellungen die Eigenheiten und Bedeutungen der jeweiligen Vögel zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus wechselt die Form des Gedichts mit den Perspektiven - vom dreistrophigen Adler über den vierstrophigen Schwan bis hin zur achtstrophigen Taube. Dies spiegelt auch die Vielfalt im Leben wieder - die verschiedenen Wege und Einstellungen, die Menschen haben können.

Zusammenfassend gesagt, vermittelt „Lebensmelodien“ die Idee, dass das Leben viele verschiedene Formen annehmen kann - repräsentiert durch den Adler, den Schwan und die Taube. Jedes Leben hat seine eigene Melodie und seinen eigenen Rhythmus und ist einzigartig und schön auf seine Weise. Die Vielfalt des Lebens und die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, ist eine zentrale Botschaft dieses Gedichts.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Lebensmelodien“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers August Wilhelm Schlegel. 1767 wurde Schlegel in Hannover geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1799 entstanden. Erschienen ist der Text in Tübingen. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Romantik zuordnen. Schlegel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche.

Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert hinein dauerte die kulturgeschichtliche Epoche der Romantik an. Ihre Auswirkungen waren in der Literatur, der Kunst aber auch der Musik und Philosophie spürbar. Die Literaturepoche wird in Frühromantik (bis 1804), Hochromantik (bis 1815) und Spätromantik (bis 1848) unterschieden. Die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts galt im Allgemeinen als wissenschaftlich und aufstrebend, was hier vor allem durch die einsetzende Industrialisierung deutlich wird. Die damalige Gesellschaft wurde zunehmend technischer, fortschrittlicher und wissenschaftlicher. Diese Entwicklung war den Schriftstellern der Romantik zuwider. Sie stellten sich in ihren Schriften gegen das Streben nach immer mehr Gewinn, Fortschritt und das Nützlichkeitsdenken, das versuchte, alles zu verwerten. In der Romantik finden sich unterschiedliche charakteristische Motivkreise. Sehnsucht und Liebe (Blaue Blume) oder das Unheimliche (Spiegelmotiv) sind bedeutende Motive. Auch politische Motive wie Weltflucht, Nationalismus und Gesellschaftskritik lassen sich aufzeigen. Das Mittelalter gilt bei den Romantikern als Ideal und wird verherrlicht. Übel und Missstände des Mittelalters bleiben unbeachtet. Die Stilepoche kennzeichnet sich vor allem durch offene Formen in Texten und Gedichten. Phantasie ist für die Schriftsteller der Romantik das Maß aller Dinge. Die Trennung zwischen Poesie und Wissenschaft, zwischen Traum und Wirklichkeit soll durchbrochen werden. Die Romantiker streben eine Verschmelzung von Kunst und Literatur an. Ihr Ziel ist es, alle Lebensbereiche zu poetisieren.

Das vorliegende Gedicht umfasst 426 Wörter. Es baut sich aus 34 Strophen auf und besteht aus 93 Versen. Weitere Werke des Dichters August Wilhelm Schlegel sind „Dante“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Lebensmelodien“ keine weiteren Gedichte vor.

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