Lady Essex von Theodor Fontane

In England wüthen zwei Thyrannen:
Der König Jacob und die Pest,
Und Jener immer raft von dannen,
Was diese noch am Leben läßt.
Gesetz und Recht – des Volkes Pathen
Sind jedes Höflings Spiel und Spott,
Schon seufzen gilt als hochverrathen,
Und führt zu Kerker und Schaffott.
 
Im Staube liegt die heilge Sache
10 
Des Volks, und bettelt vor dem Thron,
11 
Schon aber weben Haß und Rache
12 
Dein Siegeskleid – Revolution.
13 
Schon schlummert Er in goldner Wiege,
14 
Deß Stirne jenen Stempel trägt,
15 
Den auf des Mordgeweihten Züge
16 
Von Jugend auf das Schicksal prägt;
17 
Schon athmet Cromwell, schon allnachtens
18 
Tritt Englands Zukunft vor ihn hin,
19 
Und legt die Keime künftgen Trachtens
20 
In seinen ruhmbegiergen Sinn;
21 
Schon graut der Tag, nur noch ein Kurzes
22 
So steigt die Sonne blutigroth,
23 
Doch für die Zeichen nahnden Sturzes
24 
Ist jede Fürstenseele todt.
 
25 
An Jacobs Hof drückt ihren Stempel
26 
Die Lust noch auf jedwede Stirn,
27 
Noch ist sein Schloß ein Bacchustempel:
28 
Die Flasche gilt, es gilt die Dirn’;
29 
Wohl rast die Pest, doch jedes Opfer
30 
Scheint nur zu rufen: „Frisch gelebt!
31 
Wer weiß es ob der Tod den Klopfer
32 
Nicht bald an Deiner Thüre hebt.“
33 
Es ist, als ob das nahe Sterben
34 
Dem Leben tausend Reize leiht,
35 
Man jagt um seine Lust zu werben;
36 
„Genuß“ ist Losungswort der Zeit.
 
37 
Bei Hof ist Ball; schau, – scheint nicht eben
38 
Die Schönheit selbst daher zu schweben?
39 
Wer anders kann sie sein die Schlanke,
40 
Zu der, wenn sie vorüberrauscht,
41 
Ein jeder Sinn sich und Gedanke
42 
Hinneiget und gefangen lauscht!
43 
An ihrer Schönheit stumpft der Hohn.
44 
Mehr als ein König auf dem Thron,
45 
Wenn seine Blicke zornig irren,
46 
Vermag ihr Auge zu verwirren;
47 
Das bloße Flattern ihrer Locken
48 
Macht schon des Höflings Zunge stocken,
49 
Und selbst der Neid auf den sie späht,
50 
Bewundert solche Majestät.
 
51 
Was ist’s, das bis in’s tiefste Herze
52 
Selbst das Geschmeiß am Hof durchbebt,
53 
Wenn anmuthvoll, mit leichtem Scherze,
54 
Die Lady Essex näher schwebt!
55 
Ist es das junogleiche Haupt,
56 
Was jeder Brust den Athem raubt?
57 
Ist’s jener Tugend hoher Geist
58 
Der selbst die Spötter schweigen heißt,
59 
Und Ehrfurcht auch von dem ertrotzt,
60 
Der schier von allen Lastern strotzt?
61 
Wie oder ist es nur ein Grauen,
62 
Das sich in alle Herzen bahnt,
63 
Weil man die finstren Mächte ahnt,
64 
Die ihr im Busen Hütten bauen?
65 
So ist’s! ein Ahnen flüstert leis:
66 
All dieser Stolz ist Aetna-Eis,
67 
Ist Lüge, die zu leugnen strebt
68 
Die Lavagluth, die drunter lebt.
 
69 
2.
 
70 
Der Herbst ist da; die Lust zu jagen
71 
Lockt aus der Stadt nach Windsor-Schloß,
72 
Und jetzt, vorbei an Heck und Hagen
73 
Braust Jacob und sein Jägertroß.
74 
Welch Leben das! die Rosse schäumen,
75 
Die Meute klafft, die Pfeife gellt,
76 
Der Wald erwacht aus seinen Träumen,
77 
Und schauert, wenn ein Opfer fällt.
78 
Schon dunkelt’s; doch das Blutvergeuden
79 
Es dauert fort bis in die Nacht,
80 
Bis Dürsten nach des Mahles Freuden,
81 
Dem Durst nach Blut ein Ende macht.
 
82 
Heim ruft das Horn; bald in den Räumen
83 
Des Schlosses lärmt man beim Bankett,
84 
Man zecht, und statt der Rosse Schäumen,
85 
Schäumt Wein und Freude um die Wett:
86 
Toaste schallen hunderttönig,
87 
Der Wein verschwistert Alt und Jung,
88 
Und lüstern bringt zuletzt der König
89 
Den Damen seine Huldigung.
90 
„Die Schönen hoch!“ Der trunkne Alte
91 
Er ruft’s, und blinzelt durch den Saal,
92 
Sie aber, der sein Hoch erschallte,
93 
Die Lady Essex fehlt beim Mahl.
 
94 
Indeß der königliche Zecher
95 
Umsonst nach ihren Zügen gafft,
96 
Leert sie den gifterfüllten Becher
97 
Zurückgewiesner Leidenschaft.
98 
Sie, die bei tausend Huldigungen
99 
Ihr Herz mit kaltem Stolz bewehrt,
100 
Sieht jeden Sieg, den sie errungen
101 
In Niederlage jetzt verkehrt.
102 
Umsonst, daß sie die Sinnenliebe
103 
So lang bemeistert und gebannt,
104 
Jetzt höhnen sie die eignen Triebe
105 
Und des Geliebten Widerstand.
 
106 
Sie ist allein; sein Bild betrachtend
107 
Wächst wild die Gluth in ihrem Hirn,
108 
Und eine Wolke legt sich nachtend
109 
Um die gebieterische Stirn.
110 
Wohl eine Wolke, doch nicht solche
111 
Die sich in Wehmuthsthränen löst,
112 
Nein, die des Zorns, die Blitzesdolche
113 
In des Verhaßten Seele stößt.
114 
Sie zürnt; und doch – ihr ist als riefe
115 
Die Hoffnung Muth in ihre Brust,
116 
Und aus des Auges dunkler Tiefe
117 
Blickt mit dem Zorne dann – die Lust.
 
118 
Noch hängt sie, vor Verlangen zitternd,
119 
An seinem Bild mit ganzem Blick
120 
Dann aber, wie sich selbst verbitternd,
121 
Ruft sie: „welch arm – erträumtes Glück!
122 
Was soll dies kindische Betrachten,
123 
Und dies Bewundern Zug um Zug?
124 
Unwürdig mein und zu verachten
125 
Ist dieser schale Selbstbetrug.
126 
Ich will ihn selbst; mag leben – träumen
127 
Eins sein in der Vergangenheit,
128 
So lang der Freude Becher schäumen
129 
Fühlt man den Reiz der Wirklichkeit.
130 
Die sei’s!“
 
131 
Und hinter Teppichwänden,
132 
Hervor aus wohlgeborgnem Schrank,
133 
Nimmt rasch sie den aus Kupplerhänden
134 
Heut erst erkauften Liebestrank.
135 
Ihr Auge glüht; „nun denn Phiole,
136 
Wenn voll du jener Zaubermacht,
137 
Die selbst aus todtgebrannter Kohle
138 
Noch neue Liebesflammen facht, –
139 
Dann wirst du den gebornen Gluthen
140 
Anweisen auch den rechten Lauf,
141 
Und badend mich in Feuerfluthen
142 
Geht mir ein neues Leben auf.“
 
143 
Sie spricht’s; – im Geiste weiter bauend,
144 
Das Fläschchen in gekrampfter Hand,
145 
Stutzt plötzlich sie, sich selbst erschauend
146 
Genüber in der Spielgelwand.
147 
Es ist als fasse sie ein Staunen
148 
Vor ihrem eignen Ebenbild,
149 
Sie hört den Stolz im Busen raunen:
150 
„Du bist es, draus Dir Rettung quillt!“
151 
Sie hört’s, – hinklirrt das Glas in Scherben,
152 
„Fahr wohl! – Du kümmerlicher Saft
153 
Sollst nicht um Herzen für mich werben,
154 
Und spotten meiner eignen Kraft.
155 
Traun, ob der alte Höllenmeister
156 
Auch selber Dich bereitet hätt’,
157 
Ich biete Dir und ihm die Wett’;
158 
Nur fort der letzte Rest von Lüge,
159 
All Schein und Maske fahre hin,
160 
Sehn soll er meine wahren Züge,
161 
Und siegen werd’ ich, wie ich bin.“

Details zum Gedicht „Lady Essex“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
161
Anzahl Wörter
922
Entstehungsjahr
1851
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Lady Essex“ wurde von dem berühmten deutschen Dichter Theodor Fontane verfasst. Fontane lebte im 19. Jahrhundert, wobei dieses Gedicht einem seiner Spätwerke zugeordnet werden kann.

Beim Lesen des Gedichts bildet sich ein erster Eindruck von politischen Konflikten, Vergnügungssucht am Hofe und einer machtvollen Frau, die trotz der widrigen Umstände ihren Weg zu gehen versucht.

Der Inhalt dreht sich um das England zur Zeit von König Jacob, in dem neben politischer Tyrannei auch die Pest ihr Unwesen treibt. Der Hof befindet sich in einem Zustand der Dekadenz und Sorglosigkeit, da die königlichen Mitglieder sich lieber mit Vergnügungen befassen, anstatt auf die Anzeichen einer bevorstehenden Revolution zu reagieren. Im Zentrum dieser turbulenten Zeit steht die verstörende, doch faszinierende Figur der Lady Essex. Sie ist nicht nur für ihre Schönheit, sondern auch für ihren unantastbaren Stolz bekannt. Sie kämpft im Gedicht mit ihren eigenen Emotionen und ihren Versuchen, einen Geliebten durch einen Liebestrank für sich zu gewinnen. Letztendlich entscheidet sie sich jedoch gegen jegliche Art von Betrug und entschließt sich, ihren Weg zu gehen, selbst wenn sie dafür ihre wahren Absichten offenbaren muss.

Formal gesehen ist „Lady Essex“ ein episches Gedicht mit erzählenden Partien. Fontane variiert die Länge der Strophen ziemlich stark, sie reichen von bloß einem Vers bis hin zu 19 Versen. Die Sprache von Fontane ist treffend und zeichnet sich durch seinen klaren und unverwechselbaren Stil aus, der es ihm erlaubt, starke Bilder und Emotionen zu vermitteln, ohne dabei Sentimentalität zu zeigen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Lady Essex“ ein langes, episches Gedicht von Theodor Fontane ist, das eine historische Phase in England zum Leben erweckt, in der Macht, Dekadenz, Krankheit und das ständige Streben nach Vergnügen das Leben am Hof bestimmen. Zugleich zeichnet das Gedicht das beeindruckende Bild einer starken und unabhängigen Frau, die trotz ihrer komplexen emotionalen Zustände und der gesellschaftlichen Erwartungen ihren eigenen Weg zu gehen versucht.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Lady Essex“ ist Theodor Fontane. Fontane wurde im Jahr 1819 in Neuruppin geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1851 entstanden. In Berlin ist der Text erschienen. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Fontane ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 161 Versen mit insgesamt 13 Strophen und umfasst dabei 922 Worte. Weitere Werke des Dichters Theodor Fontane sind „Aber es bleibt auf dem alten Fleck“, „Afrikareisender“ und „Alles still!“. Zum Autor des Gedichtes „Lady Essex“ haben wir auf abi-pur.de weitere 214 Gedichte veröffentlicht.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Theodor Fontane

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Theodor Fontane und seinem Gedicht „Lady Essex“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Theodor Fontane (Infos zum Autor)

Zum Autor Theodor Fontane sind auf abi-pur.de 214 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.