Kriegsgefangen von Kurt Tucholsky

Wer hat in Belgiens Etappen regiert?
Offiziere! Offiziere!
Wer hat da im preußischen Ton kommandiert?
Offiziere! Offiziere!
Sollen die Belgier die Schuhe putzen:
wir haben den Spaß, wir haben den Nutzen!
Aktiver Leutnant – Rechnungsrat –
einmal: Caesar! Wie wohl das tat!
„Wer nicht pariert, den stellt an die Wand!
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(gez.) Lehmann, Ortskommandant.“
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Und die Belgier waren Menschen wie wir,
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warteten ruhig der Jahre vier,
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bis sich der fremde Spuk entfernt.
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Wen haben sie gründlich kennen gelernt?
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Offiziere! Offiziere!
 
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Kein Stroh auf dem Boden, kein Wasser, kein Bett,
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es schlottern die dünnen Jacken.
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„Mutter!“ Wer jetzt einen Heimatgruß hätt!
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Will der Tod uns noch nicht packen?
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„Travaillez! En avant, les boches! Vite! vite!“
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Ein Kolbenstoß in den Rücken.
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Ein Mann, der vorbeifährt und das sieht,
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muß die Tränen unterdrücken.
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Wer frißt es aus, was für uns vergangen? –
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Kriegsgefangen. Kriegsgefangen.
 
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Wer frißt es aus, was scheinbar vorbei?
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Die eigenen, unschuldigen Leute!
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Deutschland, hörst du den Marterschrei?
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Deutschland, tu dies noch heute:
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Stell die Burschen von damals vor ein Gericht!
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Sie sind noch frei. Sie büßen ja nicht!
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Sieh, wie sie wohlgeborgen sitzen!
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Mit ersparten Gehältern, mit Brüssler Spitzen –
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Auge um Auge! Zahn um Zahn!
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In die Hölle mit ihrem Caesarenwahn!
36 
Deutschland, wo ist der Tag des Gerichts?
37 
Deutschland, was tust du?
38 
Nichts. Nichts. Nichts.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.5 KB)

Details zum Gedicht „Kriegsgefangen“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
38
Anzahl Wörter
211
Entstehungsjahr
1919
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Kriegsgefangen“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst, einem deutschen Journalisten und Satiriker, der von 1890 bis 1935 lebte. Tucholsky ist bekannt für seine scharfen Sozialkritiken und seinen pazifistischen Ansatz. Dieses Gedicht kann zeitlich dem Ersten Weltkrieg und dessen Nachwirkungen zugeordnet werden.

Der erste Eindruck des Gedichts ist stark und emotional intensiv. Das Leid und die Ungerechtigkeit des Krieges werden deutlich hervorgehoben. Das Gedicht ist in drei Strophen mit 15, 10 und 13 Versen unterteilt und der Ton wird in jeder Strophe ausdrücklicher und fordernder.

Das Gedicht ist eine Anklage gegen die deutschen Offiziere, die in Belgien herrschten und die Belgier zu Gehorsam und Unterwerfung zwangen („Wer hat in Belgiens Etappen regiert? Offiziere! Offiziere!“). Tucholsky verwendet das Wort „Offiziere“ als eine Art Refrain, um die Verantwortung für die Kriegsgräuel dieser Gruppe zuzuschreiben. Die zweite Strophe schildert die Elend der Kriegsgefangenen. In der dritten Strophe fordert das lyrische Ich Deutschland auf, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen.

Form und Sprache des Gedichts sind auf eine Weise strukturiert, die die Anklage und den emotionalen Aufruf zur Gerechtigkeit betont. Eine dominierende Technik ist die Wiederholung, wie der Refrain „Offiziere! Offiziere!“ und das Finale „Nichts. Nichts. Nichts.“, was einen emotionalen, anklagenden und verzweifelten Ton erzeugt. Tucholsky verwendet eine direkte, klare und ausdrucksstarke Sprache, um das Leid der Kriegsgefangenen zu vermitteln und zugleich die Ungerechtigkeit hervorzuheben.

Insgesamt verdeutlicht das Gedicht Tucholskys pazifistische Position und bietet eine scharfe Kritik an Krieg und Militarismus. Es zeigt seine entschlossene Position, die Verursacher von Kriegsleid zur Verantwortung zu ziehen und Gerechtigkeit für die Opfer zu fordern.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Kriegsgefangen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Kurt Tucholsky. Geboren wurde Tucholsky im Jahr 1890 in Berlin. Im Jahr 1919 ist das Gedicht entstanden. Charlottenburg ist der Erscheinungsort des Textes. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bei Tucholsky handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Erste Weltkrieg und die daraufhin folgende Entstehung und der Fall der Weimarer Republik hatten großen Einfluss auf die Literatur der Weimarer Republik. Das wohl bedeutendste Merkmal der Literatur in der Weimarer Republik ist die Neue Sachlichkeit, die so heißt, da sie schlicht, klar, sachlich und hoch politisch ist. Die Literatur dieser Zeit war nüchtern und realistisch. Ebenso stellt sie die moderne Gesellschaft kühl distanziert, beobachtend, dokumentarisch und exakt dar. Die Autoren der Literaturepoche wollten so viele Menschen wie möglich mit ihren Texten erreichen, deshalb wurde eine einfache und nüchterne Alltagssprache verwendet. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung eines Politikers das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. Dieses Gesetz wurde in der Praxis nur gegen linke Autoren angewandt, nicht aber gegen rechte, die teils in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Das im Jahr 1926 erlassene Schund- und Schmutzgesetz verstärkte die Grenzen der Zensur nochmals. Später als die Pressenotverordnung im Jahr 1931 in Kraft trat, war sogar die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen über mehrere Monate möglich.

Als Exilliteratur wird die Literatur von Schriftstellern bezeichnet, die unfreiwillig Zuflucht in der Fremde suchen müssen, weil ihre Person oder ihr Werk im Heimatland bedroht sind. Für die Flucht ins Exil geben meist politische oder religiöse Gründe den Ausschlag. Die deutsche Exilliteratur entstand in den Jahren von 1933 bis 1945 als Literatur der Gegner des Nationalsozialismus. Dabei spielten insbesondere die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und der deutsche Überfall auf die Nachbarstaaten 1938/39 eine ausschlaggebende Rolle. Die deutsche Exilliteratur schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an und bildet damit eine eigene Literaturepoche in der deutschen Literaturgeschichte. Die Exilliteratur lässt sich insbesondere an den typischen Themenschwerpunkten wie Sehnsucht nach der Heimat, Widerstand gegen Nazi-Deutschland oder Aufklärung über den Nationalsozialismus erkennen. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Allerdings gab es einige neue Gattungen, die in dieser Epoche geboren wurden. Das epische Theater von Brecht oder auch die historischen Romane waren neue literarische Textsorten. Aber auch Flugblätter und Radioreden der Widerstandsbewegung sind hierbei als neue Textsorten erwähnenswert. Oftmals wurden die Texte auch getarnt, so dass sie trotz Zensur nach Deutschland gebracht werden konnten. Dies waren dann die sogenannten Tarnschriften.

Das vorliegende Gedicht umfasst 211 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 38 Versen. Der Dichter Kurt Tucholsky ist auch der Autor für Gedichte wie „An die Meinige“, „An einen garnisondienstfähigen Dichter“ und „An ihren Papa“. Zum Autor des Gedichtes „Kriegsgefangen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 136 Gedichte veröffentlicht.

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