Kindheit von Rainer Maria Rilke

Da rinnt der Schule lange Angst und Zeit
mit Warten hin, mit lauter dumpfen Dingen.
O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen …
Und dann hinaus: die Straßen sprühn und klingen
und auf den Plätzen die Fontänen springen
und in den Gärten wird die Welt so weit. –
Und durch das alles gehn im kleinen Kleid
ganz anders als die andern gehn und gingen –:
O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen,
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o Einsamkeit.
 
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Und in das alles fern hinauszuschauen:
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Männer und Frauen; Männer, Männer, Frauen
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und Kinder, welche anders sind und bunt;
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und da ein Haus und dann und wann ein Hund
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und Schrecken lautlos wechselnd mit Vertrauen –:
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O Trauer ohne Sinn, o Traum, o Grauen,
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o Tiefe ohne Grund.
 
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Und so zu spielen: Ball und Ring und Reifen
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in einem Garten, welcher sanft verblaßt,
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und manchmal die Erwachsenen zu streifen
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blind und verwildert in des Haschens Hast,
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aber am Abend still, mit kleinen steifen
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Schritten nach Haus zu gehn, fest angefaßt –:
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O immer mehr entweichendes Begreifen,
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o Angst, o Last.
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Und stundenlang am großen grauen Teiche
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mit einem kleinen Segelschiff zu knien;
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es zu vergessen, weil noch andre gleiche
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und schönere Segel durch die Ringe ziehn,
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und denken müssen an das kleine bleiche
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Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien –
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O Kindheit, o entgleitende Vergleiche.
33 
Wohin? Wohin?
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.2 KB)

Details zum Gedicht „Kindheit“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
33
Anzahl Wörter
212
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht ist von Rainer Maria Rilke, einem bedeutenden deutschsprachigen Lyriker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Rilkes Lebensdaten (1875-1926) platzieren ihn in die Epoche der Moderne, in der Lyrik oft geprägt ist von expressiven und symbolistischen Elementen.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass Rilke ein Stimmungsbild der Kindheit zeichnet, das von starken Kontrasten geprägt ist. Es wechseln sich Passagen der Langeweile und Einsamkeit (Vers 1-3) mit Szenen der Lebendigkeit und Energie ab (Vers 4-6). Die Atmosphäre ist teils melancholisch, teils aufbruchsgefüllt, spiegelt somit die vielschichtigkeit einer Kindheit wider.

Inhaltlich befasst sich das Gedicht mit dem Erleben des lyrischen Ichs in der Welt seiner Kindheit. Der Schulalltag wird als ermüdend und langweilig beschrieben (Vers 1-3), die Straßen und Plätze dagegen als quirlige, lebendige Orte voller Leben und Bewegung (Vers 4-6). Durch den Wechsel der Versstimmungen erweckt Rilke den Eindruck, dass das lyrische Ich sich in beiden Kontexten – sei es isoliert in der Schule oder angeregt durch das Straßenleben – als Außenseiter und Alleinstehend empfindet. 'O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen, o Einsamkeit.'.

Die Form des Gedichts ist unregelmäßig, und die Länge der Strophen variiert zwischen sieben und 16 Versen. Der Einsatz von Enjambements (Verssprünge) verstärken die Dynamik und das Gefühl von Unruhe und Veränderung. Rilke verwendet eine relativ einfache Sprache, jedoch mit einer starken emotionalen Ladung, durch den Gebrauch von Ausdrücken wie „Angst“, „Einsamkeit“, „Trauer“, „Grauen“, „Last“ - diese starken emotionalen Begriffe stehen im Kontrast zu oft idyllisch-allegorischen Kindheiterinnerungen.

Die abstrahierte, beobachtende Position des lyrischen Ichs, die durch die Verwendung von Ausrufen wie „O Trauer ohne Sinn, o Traum, o Grauen, o Tiefe ohne Grund“ unterstrichen wird, scheint eine Distanz zu den Erfahrungen der Kindheit zu schaffen. Dennoch lässt Rilke das lyrische Ich in einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen zurück, die sowohl die Freude als auch die Schwierigkeiten des Heranwachsens offenbaren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rilke in seinem Gedicht „Kindheit“ einen vielseitigen und komplexen Blick auf das Erleben von Kindheit und heranwachsender Jugend bietet. Mit seiner gefühlvollen und ausdrucksstarken Sprache erschafft er ein malerisches Bild des Aufwachsens, das von intensiven Emotionen, Kontrasten und persönlichen Reflexionen geprägt ist.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Kindheit“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Rainer Maria Rilke. Im Jahr 1875 wurde Rilke in Prag geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1906 zurück. In Berlin / Leipzig, Stuttgart ist der Text erschienen. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 33 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 212 Worte. Die Gedichte „Abend“, „Abend in Skaane“ und „Absaloms Abfall“ sind weitere Werke des Autors Rainer Maria Rilke. Zum Autor des Gedichtes „Kindheit“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.

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