Kain von Erich Mühsam

Eure geballten Fäuste schrecken mich nicht,
noch eure strengen, satzunggebundenen Ruten.
Ihr – ich erkenn’ es – seid die Gerechten und Guten,
und nur euch strahlt lächelnd das Sonnenlicht.
Speit mich an! Verachtet mich! Werft mich mit Steinen!
Zeigt euern Kindern mein häßliches Gottesmal!
Lehrt sie, daß ich ihn erschlug, den vortrefflichen Abel,
meinen Bruder, erkeimt an dem nämlichen Nabel!
Lehrt sie mich hassen, um meine Niedrigkeit greinen!
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Heißt sie Gott fürchten und seinen Rachestrahl! . . .
 
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Ach, wie war er so fromm, so zufrieden und brav!
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Betend kniet’ er inbrünstig vor Gottes Altar,
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dankend des Herrn allumfangender Güte.
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Aber ich, ein Zweifelnder ganz und gar,
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sah, wie der Blitz in ragende Bäume traf,
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sah junges Leben zerknicken in hoffender Blüte,
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wanderte einsam und sann allem Werden nach. –
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Und ich sah, wie der Bruder Reiser vom Strauche brach,
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junge grünende Reiser vom sprießenden Strauch;
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wie er sie zärtlich zum Scheiterhauf schichtete,
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wie er ein unschuldig Lamm zur Opferstatt trug,
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sah, wie aus Steinen ein Funk in das Reisigwerk schlug.
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Auf zum Himmel stieg säulengrade der Rauch,
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rot von der Glut, die zitternd die Erde belichtete.
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Gräßlich hört’ ich des Lamms Blöken und Angstgeschrei. –
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Abel, mein Bruder, sang freudige Lieder dabei.
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„Sieh, wie mein Opfer gefällt!“ rief er mir zu.
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„Aufrecht lodert die Flamme zum Himmel. Sieh!
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Siehe den Lohn! Dem Herrn sei ewiger Dank!
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Sieh meine fetten Weiden, mein munteres Vieh! –
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Deine Früchte sind welk, deine Lämmer krank.
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Spende dem Schöpfer! Kain, opfre auch du!“ – –
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Da sah ich Abels Feld üppig in Ähren stehn
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und seine Herde lustig im Grünen weiden.
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Aber mein Acker war kahl und trocken und steinigt.
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Dürsten sah ich mein Vieh und Entbehrung leiden.
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Kann es – so dacht ich – durch Gottes Ratschluß geschehn,
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daß sich der Boden entsteint, daß das Wasser sich reinigt,
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soll meines Feuers Rauch gleichfalls zum Himmel steigen.
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Kann Gott Gnaden verleihen, mag er sie zeigen! –
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Und ich sammelte mürbes Holz von der Erde,
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weil ich den lebenden Zweigen nicht wehtun wollte;
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und dann wählt ich aus meiner armseligen Herde
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ein vom Leben zerbrochenes krankes Rind,
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daß es der Schöpfer als Opfer empfangen sollte.
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Schlafend lag es und träg. So stach ich es nieder,
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trug’s zum Altar und entflammte die trockenen Scheite.
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Aber in meiner Kehle stockten die Lieder. –
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Knisternd bog sich das Holz. Da erhob sich ein Wind,
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fauchte mit boshaftem Zischen hinein in den Qualm.
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Unförmig wälzte der dicke Rauch sich zur Seite
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und erstickt meines Ackerlands dürftigen Halm. –
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Abel, mein Bruder, stand nahe und sah mich knien,
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sah, wie mein glühendes Auge im Zorn sich weitete,
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weil das Opfer, das ich dem Herrn bereitete,
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nicht wie seines hinauf in den Äther drang,
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sah den schlängelnden Rauch sich kriechend verziehn.
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„Kain," rief er, „mir ist um deine Seele bang.
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Bessere Opfer mußt du dem Gotte bringen!
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Lieder des Danks und der Freude mußt du ihm singen!
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Junge Zweige mußt du vom Strauche brechen!
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Junge, gesunde Lämmer mußt du Gott schlachten!
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Junges, warmes Blut muß himmelwärts dampfen!
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Aus deinem Reichtum mußt du zu opfern trachten!
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Wenn sich die Menschen dem Herrn zu trotzen erfrechen,
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wird er sie richten und ihre Saaten zerstampfen!“
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Auf sprang ich da und griff an die Gurgel dem Spötter.
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Winselnd wand sich der Qualm im Sturmesgeheule.
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„Junges Blut will dein Herr? – So soll er es haben!
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Folge du nach deinen wohlgefälligen Gaben!
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Grüß mir mein armes Rind! – und grüß Deine Götter!“ –
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Und ich erschlug den Bruder mit wuchtender Keule. –
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Mächtig dehnte sich meine Brust und ich hob
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gegen den Himmel die Faust und schwenkte sie drohend.
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Doch aus der Opferglut, die gewirbelt stob,
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riß der Sturm einen Splitter und jagte ihn lohend
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mir an die Stirn. Ich sank mit furchtbarem Schrei,
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daß ich im weiten Umkreis die Menschen weckte,
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nieder. Es schrieen die Rinder. Der Himmel dröhnte
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donnernd, während im Staube die Glut verreckte. –
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Aber schon eilten jammernde Menschen herbei.
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Ich entfloh, von Schmerzen gehetzt, daß ich stöhnte.
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Hinter mir gellten die Racheflüche der Hirten.
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Alle verlangten den Brudermörder zu steinigen,
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mich zu entsetzlichem Tode langsam zu peinigen.
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Vorwärts stürzte mein Fuß, daß die Felsen klirrten . . .
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Immer noch flieh ich dem Zorn der Menschengemeinde.
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Unstet und rastlos irr ich von Ort zu Ort.
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Doch mein Mal an der Stirn, vom Scheite gebrannt,
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allüberall verrät’s mich dem lauernden Feinde.
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Allüberall treibt mich sein Racheruf fort.
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Von den Stätten der Menschheit bin ich verbannt.
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Darbend fahr ich durchs Land, vogelfrei.
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Doch, wo ein Rauch sich senkrecht zum Himmel hebt,
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wo zufriedene Menschen sich dankbar beugen, –
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ah! – da schleich ich mit krummem Rücken vorbei,
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kralle die Hand, die vom Blute des Bruders klebt,
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heiße mein Feuermal gegen die Menschheit zeugen! –
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Opfert ihm nur, dem Gott der Gerechten und Guten,
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der eure Hütten mit köstlichen Früchten füllt,
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der euern Leib mit wärmenden Fellen umhüllt!
102 
Junge Lämmer laßt ihm zum Preise bluten!
103 
Danket für euern Reichtum dem Gotte der Reichen!
104 
Und verschließt vor dem Hunger des Armen die Scheuer!
105 
Wen Gott haßt, den mögt ihr richten als Schlechten!
106 
Was euer Gott auf den Feldern gedeihen laßt, ist euer!
107 
Ihr nur seid wert, dem Ebenbild Gottes zu gleichen!
108 
Aber auf mich ergieß sich der Zorn der Gerechten! – –
109 
Kommt! Ich fürcht mich nicht mehr! Hier steh ich zum Kampf!
 
110 
Eure geballten Fäuste schrecken mich nicht!
111 
Brudermörder ihr selbst – und tausendfach schlimmer!
112 
Aus euerm Scheiterhauf raucht meines Herzbluts Dampf.
113 
Trag ich so gut als ihr nicht Menschengesicht?
114 
Aufrecht steh ich vor euch und fordre mein Teil! . . .
115 
Gebt mir Freiheit und Land! – und als Bruder für immer
116 
kehrt euch Kain zurück, der Menschheit zum Heil!

Details zum Gedicht „Kain“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
116
Anzahl Wörter
916
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Kain“ wurde von Erich Mühsam geschrieben, einem bedeutenden deutschen Schriftsteller und Anarchisten, der von 1878 bis 1934 lebte. Dies verortet das Gedicht in das ausgehende 19. und frühe 20. Jahrhundert, eine Zeit hoher gesellschaftlicher und politischer Veränderungen und Auseinandersetzungen.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht intensiv und leidenschaftlich, mit einer Menge Wut und Verzweiflung, die durch die Stimme Kains, der zentralen Figur, zum Ausdruck gebracht wird. Das Gedicht ist eine Nacherzählung und zugleich eine tiefgehende Interpretation der biblischen Geschichte von Kain und Abel.

Inhaltlich handelt es sich um die Beichte Kains, der seinen Bruder erschlagen hat. Kain wird hier als eine Art rebellische Figur dargestellt, die sich gegen die Ungerechtigkeiten auflehnt, die er in der Welt sieht. Er stellt die traditionelle Ethik infrage und prangert die Heuchelei und Brutalität der Menschheit an, die sich hinter religiöser Frömmigkeit und Gesetzestreue verbirgt. Indem er seine Geschichte erzählt und seine Taten rechtfertigt, versucht Kain, die Menschheit dazu zu motivieren, ihre überkommenen Denkweisen und Verhaltensweisen zu überdenken und ihre wirklichen Motive und Werte zu hinterfragen.

In Form und Sprache ist das Gedicht äußerst expressiv und dramatisch. Es besteht aus drei Strophen, wobei die zweite Strophe mit 99 Versen weitaus ausführlicher und detailreicher ist als die anderen. Durch den Gebrauch von lebhaften, bildhaften Metaphern und starken emotionalen Ausdrücken erreicht Mühsam ein hohes Maß an Intensität und Bewegung, das die Aufmerksamkeit des Lesers fesselt und die Relevanz und Dringlichkeit des Themas unterstreicht. Die Wortwahl ist oft hart und provokativ, was das rebellische und herausfordernde Wesen von Kains Haltung widerspiegelt.

Insgesamt ist „Kain“ ein kraftvolles und provokantes Gedicht, das die Gesellschaft und die Religion herausfordert und dazu anregt, über unsere ethischen Grundlagen und Werte nachzudenken. Es zeigt die Tendenz Mühsams, die Autorität in Frage zu stellen und soziale Ungerechtigkeiten anzuprangern und passt somit gut in sein politisches Engagement als Anarchist. Das Gedicht spiegelt auf eine sehr persönliche und intensive Art die Probleme und Konflikte seiner Zeit wider und bringt seine Kritik an gesellschaftlichen Missständen und Ungerechtigkeiten zum Ausdruck.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Kain“ des Autors Erich Mühsam. 1878 wurde Mühsam in Berlin geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1920. Erschienen ist der Text in München. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Expressionismus zuordnen. Bei dem Schriftsteller Mühsam handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 916 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 116 Versen. Die Gedichte „Bauchweh“, „Betäubung“ und „Das Beispiel lebt“ sind weitere Werke des Autors Erich Mühsam. Zum Autor des Gedichtes „Kain“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 57 Gedichte vor.

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