Junge Leiden von Rudolf Lavant

Der leichte Sinn, der seine Schwinge
Im Blau des Aethers freudig wiegt
Und unter dem der Erdendinge
Trübsel’ges Wirrsal dämmernd liegt –
Mich hat er nicht emporgetragen,
Und trotzig hat von Anbeginn
In uralt-ew’ge Räthselfragen
Sich eingewühlt der finstre Sinn.
 
Von banger Schwermuth war umnachtet
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Der Geist und leidenwund die Brust,
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Als Andre frisch und rasch getrachtet
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Nach Vollgenuß der Jugendlust;
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Das Weh gab früh mir seine tiefen
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Mysterien für den schönen Schein,
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Und hundert dunkle Stimmen riefen
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Mich in sein düstres Reich hinein.
 
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Der Jugend Schlummer floh mein Kissen,
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War auch das Auge müd und heiß;
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Es suchte Rath und Trost im Wissen
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Mein angstvoll-ungestümer Fleiß,
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Ein Fleiß, der bis zum Morgendämmern
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Bei ernsten Büchern rege blieb,
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Bis mich zur Ruh’ der Schläfe Hämmern
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Und in der Stirn das Zucken trieb.
 
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Es war, als ob mein Sinn sich richte
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Auf Trauriges und Trübes nur –
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In Menschenleben und Geschichte
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Und selbst im Walten der Natur.
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Es war kein Laut dem Ohr zu leise,
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Kein Bild dem Blick zu flüchtig-zart,
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Doch liebt’ ich sie auf meine Weise
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Und nicht nach andrer Menschen Art.
 
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Im Wald verschmolz mit meinen Träumen
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Voll stiller, weicher Traurigkeit
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Das ernste Rauschen in den Bäumen,
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Das leise Flüstern weit und breit,
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Der Sonnenlichter irres Gaukeln
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Auf Laub und Stamm, das Vogellied,
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Und der Libelle leises Schaukeln
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Auf schwankem, windbewegtem Ried.
 
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Der Falter, der auf Blumen rastet
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Und wie ein Blatt im Winde schwimmt,
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Der Käfer, der im Moose hastet,
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Und an des Grases Halmen klimmt,
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Das junge Reh, das ruhig weidet,
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Mich an aus sanften Augen schaut,
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Und ohne Furcht mir näher schreitet,
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Sie wurden lieb mir und vertraut.
 
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Ich sah am See der fernen Wellen
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Raschwiegendes Herangewog,
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Ich sah sie am Gestein zerschellen,
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Daß flock’ger Schaum mich überflog;
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Ich sah, wie eine grüne Welle
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Die andre hastig übersprang,
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Und sich in ungeduld’ger Schnelle,
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Aufs sand’ge Ufer zischend schwang; –
 
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Ich sah, wie, matt schon vor dem Strande,
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Mit leisem, monotonem Schlag
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Sich an dem Steingeröll im Sande
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Das breite Wellenfluthen brach,
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Und wie es über weiße Kiesel
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Mit murrendem Gegurgel dann,
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Und dann mit plätscherndem Geriesel
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Zur Seite ins Geröhricht rann.
 
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Es litt mich nicht im engen Zimmer,
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Es trieb mich fort, so oft sich fahl
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Durch schwarzer Wolken Riß der Schimmer
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Des Mondes auf Minuten stahl,
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Mit seinem klaren, kalten Lichte
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Still übergoß das weite Land,
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Und wieder dann sich barg in dichte,
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Nur matt gesäumte Wolkenwand.
 
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Ich wanderte dem Wind entgegen
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In banger, wetterschwüler Nacht,
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Der sich auf staubbedeckten Wegen
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In wirren Wirbeln aufgemacht,
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Ich starrte, keinen Blick verwendend,
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Im Schreiten in die Finsterniß,
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Bis flammend sie und grell und blendend
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Der erste Wetterstrahl zerriß.
 
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Mir war Musik des Regens Rauschen
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Und das verhaltene Gegroll,
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Zu dem allmälig meinem Lauschen
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Erstarb das dröhnende Geroll,
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Wenn länger nicht der Blitze Sprühen
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In Blut den Horizont getaucht,
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Und nur ein hastig zuckend Glühen
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Mit mattem Roth ihn überhaucht.
 
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Tiefathmend ließ ich es geschehen,
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Daß mir der Wind im Haar gewühlt –
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Er hat mit seinem frischen Wehen
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Der bleichen Stirne Brand gekühlt,
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Und eher nicht aus Nacht und Dunkel
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Lenkt’ ich den Schritt zurück zur Stadt,
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Bis mich mit zitterndem Gefunkel
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Ein ferner Stern geleitet hat.
 
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Und kam ins Land der Frühling wieder
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Und brachte weiche, laue Luft,
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Und junges Grün und Lerchenlieder,
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Und leisen, süßen Veilchenduft,
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Dann pochte schwer mir und verzagend
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Das Herz in der bedrängten Brust,
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Und müde senkte sich und klagend
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Der Blick vor all der Werdelust.
 
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Es lächelte wie neugeboren
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Mir die Natur in jedem Mai,
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Doch jeder mahnte, daß verloren
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Ein Jahr des kurzen Lebens sei;
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Es steht die Welt in frischem Prangen,
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Ganz so wie einst, in jedem Jahr,
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Doch was für uns dahingegangen,
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Das ist dahin auf immerdar.
 
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Die weihevollste Zeit im Jahre,
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Die ganz das Herz gefangen nahm,
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Sie war, wenn mit dem Herbst die klare,
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Wehmüthig-ernste Stille kam,
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Wenn durch des weiten Himmels reines,
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Tiefklares Blau kein Wölkchen ging,
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Und der Marienfäden feines
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Geweb’ an Strauch und Zweigen hing;
 
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Wenn sich vor rauer Lüfte Wehen
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In Roth und Gelb gehüllt der Baum,
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Wenn seine dunkelblauen Schlehen
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Gereift der Busch am Waldessaum,
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Wenn ich die Frucht der Heckenrose,
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Den letzten Brombeerbüschel fand,
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Und matt gefärbt die Herbstzeitlose
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In kahlen Wiesengründen stand.
 
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Und wenn das hastig-wirre Lärmen
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Der Wind zu mir herübertrug,
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Von all’ den bunten Vogelschwärmen,
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Die sich geschaart zu weitem Flug,
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Dann ward die Seele von dem Walten
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Verwandten Dranges übermannt,
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Als müsse Schwingen sie entfalten
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Zum Fluge in ein bessres Land.
 
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Es fand mein prüfend tiefes Schauen
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Ins dunkle Auge der Natur
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In ihm von Todesangst und Grauen,
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Von Krampf und Marter keine Spur.
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Ich forschte in den stillen Zügen
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So tief zu keiner andern Zeit,
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Doch war mir nur, als ob sie trügen
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Den Stempel tiefer Müdigkeit.
 
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Ich nannte diese klaren Tage
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Der eignen Todesstunde Bild –
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Ich wollte sterben ohne Klage,
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Mit einem Lächeln sanft und mild;
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Ich wollte, schweigend und ergeben,
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Ein Glück im Schlafendürfen sehn,
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Und ruhig-heiter aus dem Leben
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Ins große Nichts hinübergehen.

Details zum Gedicht „Junge Leiden“

Anzahl Strophen
19
Anzahl Verse
152
Anzahl Wörter
834
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Junge Leiden“ wurde von Rudolf Lavant, einem deutschen Schriftsteller, verfasst. Er lebte von 1844 bis 1915, was das Gedicht in die Zeit der Hochromantik bis zum Übergang ins industrielle Zeitaltern einordnet.

Der erste Eindruck des Gedichts vermittelt eine tiefgründige Traurigkeit und Schwermut. Der Inhalt dreht sich um eine melancholische Erzählung des lyrischen Ichs über seine Empfindungen. Im Einklang mit der Natur, die durch detaillierte Beschreibungen dargestellt wird, spiegelt sie die inneren Kämpfe und schmerzhaften Empfindungen wider. Das lyrische Ich scheint die Welt anders zu erleben als andere Menschen, verbringt viel Zeit in der Natur, fühlt sich einsam und ist von Melancholie und Traurigkeit geprägt. Diese Empfindungen scheinen an eine Situation der Jugend des lyrischen Ichs gekoppelt zu sein.

In Bezug auf die Form des Gedichts besteht es aus 19 Strophen zu je acht Versen, was es zu einem umfangreichen Werk macht. Die Sprache ist altertümlich und hochkomplex, mit vielen Adjektiven und Bildern der Natur. Sie spiegelt die typische Romantikepoche wider, in der Emotionen und Natur im Vordergrund standen.

Die Erzählung nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Gefühle und Gedanken des lyrischen Ichs. Die detaillierten Beschreibungen der Natur und ihre Metaphoriken symbolisieren seine Melancholie und Einsamkeit, was auf den damaligen Zeitgeist und die gängige Sehnsucht nach der Vereinigung von Mensch und Natur hinweist. Die Gedanken an den Tod und das Ende, die im letzten Abschnitt des Gedichts vorkommen, deuten auf eine gewisse Resignation oder gar eine Sehnsucht nach Erlösung hin.

„Junge Leiden“ ist ein leidenschaftliches, melancholisches Selbstportrait des Autors, das durch die Verwendung besonders eindrucksvoller Naturbilder und seine offene Auseinandersetzung mit leidvollen Erfahrungen und dem Tod besticht. Dieses Werk stellt eine ernste und tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Lebens und den damit verbundenen Emotionen dar.

Weitere Informationen

Rudolf Lavant ist der Autor des Gedichtes „Junge Leiden“. Geboren wurde Lavant im Jahr 1844 in Leipzig. 1893 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Stuttgart. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Naturalismus oder Moderne zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 834 Wörter. Es baut sich aus 19 Strophen auf und besteht aus 152 Versen. Weitere Werke des Dichters Rudolf Lavant sind „An la belle France.“, „Bekenntnis“ und „Das Jahr“. Zum Autor des Gedichtes „Junge Leiden“ haben wir auf abi-pur.de weitere 96 Gedichte veröffentlicht.

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