Jung-Elschen von Louise Otto-Peters

Der Abendwind streicht durch den Wald
Und Blatt und Blatt sich säuselnd grüßen,
Das Lied der Nachtigall erschallt
In Liebestönen, schmeichelnd süßen.
 
Noch spielt der letzte Rosenschein
Der Sonne um die höchsten Bäume,
Doch schläft schon manche Blüte ein,
Wiegt leis ihr Haupt als ob sie träume.
 
Still wird die Luft, es sinkt der Thau
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Und überzieht mit feuchtem Glänzen
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Die blütenreiche, duftge Au,
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Als schmück’ er sie zu Elfentänzen.
 
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Schon fliegt der erste Glühwurm aus,
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Nachtfalter schwirrend sich erheben –
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Da tritt Jung-Elschen aus dem Haus
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Zur Gartenthür, mit leisem Beben.
 
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Den Riegel innen schiebt sie fort,
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Um hinter sich ihn leis zu schließen;
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Den Abendstern, der Unschuld Hort,
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Hat ihr der erste Blick gewiesen.
 
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Seit Wochen hat sie hier geweilt
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Und treu gepflegt die alte Muhme,
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Bis sie genas – nun einmal eilt
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Sie zu des Waldes Heiligtume.
 
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Längst hat sie sich dahin gesehnt,
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Doch machte ihr die Muhme bange,
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Die Raub und Mord im Walde wähnt
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Und hinter Blumen selbst die Schlange.
 
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Sie sollt’ am Abend nie allein
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Die einsam stillen Pfade gehen – –
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Doch würde Gott nur bei ihr sein,
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Was könnte ihr denn wohl geschehen?
 
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Er hatte ja den Wald gebaut
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Mit seinen hehren Buchenhallen –
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Wie sollte denn, wer Gott vertraut,
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Nicht froh und sicher darin wallen??
 
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Die Muhme schlief, die Magd war da,
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Jung-Elschen konnte fort sich schleichen,
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Und bald war sie dem Walde nah,
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Er grüßte sie mit heilgem Schweigen.
 
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Ganz einsam war’s – ein Wandersmann
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Kam ihr entgegen nur geschritten,
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Er hielt den Fuß dicht vor ihr an,
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Um eine Gabe sie zu bitten.
 
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Sie grüßt ihn still und gab ihm mehr
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Als er gewohnt war zu erhalten –
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Er sah sie an – und dankte sehr –
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Und sie sprach tröstlich: „Gott mags walten!“
 
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Wie schön war’s drinnen nun im Wald!
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Der Mond begann heraufzusteigen –
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Doch plötzlich lauter Sang erschallt,
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Wo vorher noch das tiefste Schweigen.
 
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„Ei, guten Abend schönes Kind!
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So einsam hier im Mondenscheine? –“
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„Der Abend ist so hold und lind –
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Ich bin im Walde gern alleine.“
 
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„Hei, abgeblitzt!“ ein Andrer rief:
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„Die weist uns selbst im Wald die Thüre!“
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Ein Scherzwort durch die Burschen lief –
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„Wohl – jeder wird, was ihr gebühre.“
 
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Sie zogen fort, und lächelnd stand
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Jung-Elschen da im Mondenlichte –
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Strich sinnend mit der weißen Hand
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Ihr Goldhaar aus dem Angesichte. –
 
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Und wieder herrschte tiefe Ruh
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Vom Teppichmoos bis zu den Sternen –
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„O. Nacht, wie doppelt schön bist du,
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Wenn wir im Wald dich kennen lernen!“
 
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Andacht durch ihre Seele zieht,
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Die Hände faltet sie zusammen,
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Und betend fromm sie niederkniet,
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Im blauen Aug’ Begeistrungsflammen.
 
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Und plötzlich schreckt ein Fluch sie auf –
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Sie sieht in rauhen Mannes Händen
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Des blitzenden Gewehres Lauf
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Und ruft erschreckt: „Das müßt Ihr wenden!“
 
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„Ich bin kein Dieb, bin auch kein Reh,
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Dafür Ihr mich vielleicht gehalten –
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Ein Mädchen nur ich vor Euch steh,
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Dess’ Hände betend sich gefalten!“ –
 
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Da schüttelt es den bösen Mann,
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Den böse That zur Flucht getrieben,
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Er ruft: „Für mich auch bete dann!“
84 
Und kehrt sich um – „Zu Gott, dem lieben!“
 
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Ruft sie mit unschuldsvollem Laut
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Dem Flücht’gen nach. Dann kehrt sie wieder
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Zum stillen Haus, zum Garten traut,
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Wo süß noch duften Ros’ und Flieder.
 
89 
Am Morgen sie zur Muhme spricht:
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„Ich will es ehrlich dir gestehen,
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Ich hab’ im stillen Mondenlicht
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Im Wald mich gestern umgesehen.“
 
93 
Die Muhme fährt erschreckt sie an:
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„Weh’, wenn dich jemand dort getroffen!“
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„Niemand hat mir ein Leid’s gethan!“
96 
Und Elschen schildert Alles offen.
 
97 
Die Muhme hört’s, der Fassung bar –
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Dann seufzt die Brust, die angstbefreite –
99 
„Du ahntest nicht einmal Gefahr – –
100 
Die Unschuld gab dir das Geleite!“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32.8 KB)

Details zum Gedicht „Jung-Elschen“

Anzahl Strophen
25
Anzahl Verse
100
Anzahl Wörter
595
Entstehungsjahr
1870-1880
Epoche
Realismus,
Naturalismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Jung-Elschen“ wurde von Louise Otto-Peters geschrieben, die im 19. Jahrhundert lebte und eine der bedeutenden Persönlichkeiten der Frauenbewegung in Deutschland war. Wahrscheinlich wurde das Gedicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben.

Beim ersten Lesen entstand der Eindruck, dass das Gedicht die Geschichte einer jungen Frau namens Elschen erzählt, die sich mutig und unabhängig in einer von Männern dominierten Welt bewegt. Die weibliche Hauptfigur scheint klare moralische Prinzipien und tiefen Glauben zu haben, was zu dieser Zeit nicht immer mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft übereinstimmte.

Die Handlung des Gedichts, einfach ausgedrückt, folgt Elschen, die sich während eines Abendspaziergangs durch den Wald mehreren Begegnungen und Projekten stellt. Obwohl sie vor möglichen Gefahren gewarnt wurde, bleibt sie ruhig und zuversichtlich. Sie begegnet einem Bettler, mehreren Burschen und nicht zuletzt einem Mann mit einer Waffe. Durch ihre Unschuld und ihren Glauben gelingt es ihr jedoch, jeglichen möglichen Schaden zu vermeiden.

Die Form des Gedichts besteht aus regelmäßigen vierzeiligen Strophen, was sowohl für die Klarheit der Geschichte als auch für die Stabilität von Elschens Charakter stehen könnte. Die Sprache ist eher einfach und direkt, jedoch reich an Naturbildern, die einen ruhigen und friedlichen Rahmen für die Ereignisse im Wald schaffen.

Im Hinblick auf den Kontext war Louise Otto-Peters eine bemerkenswerte Figur in der Frauenbewegung und dieses Gedicht könnte man als eine Art von feministischer Allegorie interpretieren. Es stellt eine starke, unabhängige junge Frau dar, die sich ihren Ängsten und Bedrohungen stellt und sie dank ihrer Unschuld und ihres Glaubens überwindet. Es könnte auch als Kritik an den Geschlechterstereotypen und Einschränkungen des 19. Jahrhunderts sowie als Aufruf zur Stärkung und Ermächtigung der Frauen gelesen werden.

Weitere Informationen

Louise Otto-Peters ist die Autorin des Gedichtes „Jung-Elschen“. Otto-Peters wurde im Jahr 1819 in Meißen geboren. 1880 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zu den Epochen Realismus oder Naturalismus zu. Prüfe bitte vor Verwendung die Angaben zur Epoche auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich Literaturepochen zeitlich überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung häufig mit Fehlern behaftet. Das vorliegende Gedicht umfasst 595 Wörter. Es baut sich aus 25 Strophen auf und besteht aus 100 Versen. Die Dichterin Louise Otto-Peters ist auch die Autorin für Gedichte wie „An Richard Wagner“, „Auf dem Kynast“ und „Bergbau“. Zur Autorin des Gedichtes „Jung-Elschen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 106 Gedichte veröffentlicht.

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