Jugend von Karl Kraus

Da schon die Blätter falb,
will ich nicht säumen,
innen und außerhalb
Frühling zu träumen.
 
Eh mich umfaßt die Qual
dunkler Gewalten –
o holdes Dazumal,
lasse dich halten!
 
Wie es von mildem Weh
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weht durch die Zeiten!
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Will, wenn ich schulwärts geh’,
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gern mich begleiten.
 
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Hab’ vor dem Ziele bang,
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nie mich erdreistet.
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Wenn es mir auch gelang,
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war’s doch geleistet.
 
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Länger davor verweilt,
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wird es mir lieber –
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ach, wie die Zeit enteilt,
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ich habe Fieber.
 
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Wie es mich trieb mit Hast
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zu Hindernissen,
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drückte wie Zentnerlast
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gutes Gewissen.
 
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Nicht ohne Lust ich litt
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vieles Versäumnis,
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nie ohne Furcht ich schritt
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in das Geheimnis.
 
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Glück war es und Beruf,
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Glück zu entbehren;
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was mir Verehrung schuf,
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scheu zu verehren.
 
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Muth aber und Gewalt
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vor der Gemeinde,
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Sturm ohne Aufenthalt
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faßte die Feinde.
 
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Herz, wie du wieder bangst
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im weitern Raume,
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weckte dich Kinderangst
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aus deinem Traume.
 
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Pocht es von altersher,
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öffn’ ich die Sinne,
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daß es wie damals wär’,
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wo ich beginne.
 
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In trüber Lebensluft
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voller Gefahren
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ahn’ ich den Gartenduft
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aus frühen Jahren.
 
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Ruf ichs, so ist es da,
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daß ich es hege.
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Grün, wie ich’s nie mehr sah,
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wuchs mir am Wege.
 
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Liegt mir die Zeit im Ohr,
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um mich zu täuschen,
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dringt doch ein Kinderchor
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aus den Geräuschen.
 
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Heuer gehts früh aufs Land,
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auf blasser Wange
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fühle ich deine Hand.
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Fort bist du lange.
 
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Fern als ein Leierklang
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klingts in das Leben,
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wills einem Leid entlang
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spielen und schweben.
 
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Ja dort in Weidlingau,
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in jenem Alter,
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war mir der Himmel blau,
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roth war der Falter.
 
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Bin schon im Herrenbad,
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Schwimmeisterstimme,
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welch eine Wundertat,
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daß ich schon schwimme!
 
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Dann in der Bildung Frohn,
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bessrer Berather,
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spielt mir der Lebenston
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Sommertheater.
 
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Da ward mir frei und froh
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vor bunter Szene.
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Liebte Madame Angot,
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schöne Helene.
 
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Blaubarts Boulotte und,
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nicht zu vergessen,
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Gerolstein, Trapezunt,
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alle Prinzessen.
 
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Und bis zum letzten Lohn
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schwebender Wonne
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tanzte und schlug den Ton
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Gilette von Narbonne.
 
89 
Leben kein Sündenplatz,
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Kunst keine Sühne.
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Schwerlosen Wissens Schatz
92 
bot mir die Bühne.
 
93 
Gern den gebührlichen
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Dank will bewahren
95 
jenen figürlichen
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Achtziger Jahren!
 
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Was ich vereine,
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dort schien’s gefunden,
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und ihrem Scheine
100 
Wesen entbunden.
 
101 
Wer bliebe ungerührt
102 
von ihren Künsten?
103 
Doch keine Brücke führt
104 
zu euren Dünsten!
 
105 
Kunst war nicht Nebenbei,
106 
konnte noch gelten,
107 
rief als ein Wolterschrei
108 
tieferen Welten.
 
109 
Was nun in Dunkelheit
110 
leide und sehne,
111 
weiht jenem bessern Leid
112 
Sonnenthals Thräne.
 
113 
Jünger bin ich als jung,
114 
leb’ ich im Alten.
115 
Welche Erneuerung!
116 
Welches Erhalten!
 
117 
Zieht in der Zeiten Kluft –
118 
ich wohne besser,
119 
bau’ ich mir in die Luft
120 
brüchige Schlösser!
 
121 
Blick’ ich nur aus von dort
122 
in eure Fenster,
123 
ruft euch mein Zauberwort:
124 
seid ihr Gespenster!
 
125 
Neuer ist meine Art,
126 
freier ich wohne.
127 
Es brach die Gegenwart
128 
ein Epigone!
 
129 
Rückwärts mein Zeitvertreib!
130 
Jugend erst werde!
131 
Länger als ihr verbleib’
132 
ich auf der Erde!
 
133 
Und weil die Blätter falb,
134 
soll es mich laben,
135 
innen und außerhalb
136 
Frühling zu haben!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (34.8 KB)

Details zum Gedicht „Jugend“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
34
Anzahl Verse
136
Anzahl Wörter
484
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das vorliegende Gedicht „Jugend“ wurde von Karl Kraus verfasst, einem österreichischen Schriftsteller und Journalisten, der von 1874 bis 1936 gelebt hat. Somit lässt sich das Gedicht zeitlich in die Literaturepoche der Moderne einordnen.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Gedicht sehr lang ist und aus vielen kurzen Strophen besteht. Zudem scheint es lyrische sowie nostalgische Elemente zu beinhalten, die sich auf das Thema Jugend und Erinnerungen beziehen.

Inhaltlich geht es in dem Gedicht um das lyrische Ich, das auf seine Jugend zurückblickt und dabei nostalgische sowie melancholische Gefühle hervorbringt. Es berichtet von seinen Jugendträumen, seinen Ängsten, seinem Lebensweg, seiner Bewunderung für die Kunst und seine gegenwärtige Betrachtungsweise des Lebens. Sprachlich schildert das lyrische Ich seine Empfindungen mittels farblichen und sensorischen Metaphern, was einen bildhaften und kreativen Ausdruck hervorbringt.

Das Gedicht besteht aus 34 Vierzeiler-Strophen und hält einen Reim-Schema (Kreuzreim) ein. Der Rhythmus des Gedichts ist gleichbleibend und trägt zum flüssigen Lesefluss bei. Die Sprache ist eher schlicht und klar, was den Leser dazu einlädt, sich in die Gedankenwelt und Empfindungen des lyrischen Ichs einzufinden.

Formal und sprachlich fügt sich das Gedicht gut in den Stil der Moderne ein, in der das Individuum und seine Innenwelt im Fokus der Literatur stehen. Die Moderne ist geprägt von Brüchen und dem Infragestellen traditioneller Werte und Normen. Dies wird auch in dem vorliegenden Gedicht deutlich, in dem das lyrische Ich sich trotz der Vergänglichkeit der Zeit und des Alters auf seine Jugend besinnt und somit eine Kontinuität in seinem Lebensweg findet.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Gedicht „Jugend“ von Karl Kraus ein ausdrucksstarkes lyrisches Werk ist, das einen tiefen Einblick in die Gefühle und Gedanken des lyrischen Ichs gewährt und das Thema Jugend und Alter auf eine eindringliche Weise behandelt.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Jugend“ des Autors Karl Kraus. Im Jahr 1874 wurde Kraus in Jičín (WP), Böhmen geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1920 zurück. Erschienen ist der Text in München. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das Gedicht besteht aus 136 Versen mit insgesamt 34 Strophen und umfasst dabei 484 Worte. Karl Kraus ist auch der Autor für Gedichte wie „Als Bobby starb“, „An den Schnittlauch“ und „An eine Falte“. Zum Autor des Gedichtes „Jugend“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 61 Gedichte vor.

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