Jesus der Künstler von Richard Dehmel

So war’s. So stand ich: dumpf, doch fühlend: stumm:
im roten Saal, reglos, in dunkler Ecke:
dumpf, starr und fühlend: schwer: Stein unter Steinen:
bang: starr, und fühlend! –
Die schlanken Alabastersäulen leuchten;
vom hohen Saum der Purpurkuppel hängen
und glänzen weit ihr silbern Licht herab
im Doppelkreis die großen weißen Ampeln;
die roten Nischen bergen zarte Schatten
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und spiegeln sich im blanken Pfeilerwerk;
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es ist so still ...
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Und stumm gleich mir und unbewegt, von Nische
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zu Nische, stehn Gestalten: Mann und Weib.
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In weißer Nacktheit stehn sie schimmernd da;
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die glatten Sockelblenden werfen Strahlen;
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die roten Wände füllen lebensweiche
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geheime Schmelze um den Rand der Glieder;
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von Kraft und Ruhe träumt der reine Stein;
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sie sind so schön ...
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Ich aber hocke in der dunklen Ecke
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und fühle meines Leibes Magerkeit
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und meiner Stirne graue Sorgenfurchen
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und meiner Hände rauhe Häßlichkeit.
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In meinem Staub, in meinen Straßenlumpen
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mißfarben angetüncht, so hocke ich
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auf fahlem Postamente, steif und bang,
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vor ihrer Nacktheit mich der Kleider schämend:
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Stein unter Steinen ...
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Nur Einer atmet in der stillen Halle.
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Dort in der Mitte, auf dem mattgestreiften
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eisblassen Marmor, liegt im Dornenkranz,
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blutstropfenübersät die bleiche Stirn,
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ein Mensch und schläft. Sein weißer Mantel hebt sich
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in langen Falten leise auf und nieder.
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Im Silberlicht der Ampeln glänzen rötlich
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der schmale Bart, das schwere, weiche Haar.
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Hinauf zur Kuppel bebt der milde Mund;
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so lautlos schön ...
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Nun kommt ein Seufzen durch den stummen Glanz.
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Die stillen Lippen haben sich geöffnet.
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Im blanken Alabaster spiegelt sich
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des blutbesprengten Hauptes leise Regung.
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Klar, langsam thun zwei große blaue Augen
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empor zur Purpurwölbung weit sich auf,
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sanft auf; und alles Rot und Weiß des großen
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Gemaches überleuchtet dieser großen
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verklärten Augensterne dunkeltiefes,
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unsäglich tiefes, dunkles, sanftes Blau.
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So steht er auf ...
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Da scheinen sich die Steine rings zu rühren,
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die weißen Glieder eigner sich zu röten,
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und nur von Sehnsucht starr. Er aber wandelt.
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Die Dornenkrone bebt; und wie er sacht
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von Postament zu Postamente schreitet,
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und Wen er ansieht mit den blauen Augen,
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der lebt und steigt in Schönheit zu ihm nieder,
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Der lebt, Der lebt! –
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Und steigend, wandelnd, aus den Purpurzellen,
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in warmer Nacktheit leuchtend Leib an Leib,
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folgt Paar auf Paar ihm von den Marmorschwellen,
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so stolz, so stolz, umschlungen Mann und Weib.
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Von ihren Stirnen, von den lichtbetauten
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sorglosen Lippen ein Erwachen flieht,
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der weite Saal erklingt von Menschenlauten,
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es schwebt ein Lied.
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Es schwebt und klingt: „So wandeln wir in Klarheit
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und wissen aller Sehnsucht Sinn und Ziel:
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in Unsrer Schönheit haben wir die Wahrheit,
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zur Freude reif, und frei zum kühnen Spiel!“
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So schwebt das Lied ...
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Ich aber hocke in der dunklen Ecke,
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und fühle meiner Glieder Häßlichkeit
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und meiner Stirne graue Sorgenfurchen,
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und fühle neidisch ihre warme Nacktheit
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und frierend ihren Jubel – ich ein Stein.
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Von Pfeiler hell zu Pfeiler tönt der Zug,
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des stillen Wandlers Dornenkrone bebt,
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ich aber bebe mit in meinen Lumpen
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und warte, warte auf die blauen Augen
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und will auch leben, auch ein Freier wandeln,
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nicht Stein, nicht Stein! –
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Und näher glänzt und klingt es um die Säulen;
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vom letzten Sockel folgt ein Mädchen ihm;
84 
er kommt! er kommt! –
85 
Und er steht vor mir. Da verstummt der Zug;
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ich fühle ihre stolzen Augen staunen
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und fühle seine, seine Augen ruhn
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in meinen, ruh’n, und will mich an ihn werfen
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und will ihm küssen seinen milden Mund,
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da brechen perlend seine Wunden auf,
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die bleiche Stirn, die Lippe zuckt, – er spricht,
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ihm schießen Thränen durch den blutigen Bart,
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spricht: „Deine Stunde ist noch nicht gekommen!“
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Und ich erwachte. Weinend lag ich nackt;
95 
nackt wie die Armut.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32.3 KB)

Details zum Gedicht „Jesus der Künstler“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
95
Anzahl Wörter
599
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das hier diskutierte Gedicht „Jesus der Künstler“ stammt von Richard Dehmel, einem deutschen Dichter vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, der für seine natur- und liebeslyrischen Gedichte bekannt ist. Diese zeitliche Einordnung deutet auf eine historisch wichtige Phase hin, die geprägt war von tiefgreifenden sozialen und kulturellen Umwälzungen.

Unser erster Eindruck zeigt ein langes Gedicht, das tiefe Gefühle, Eindrücke und kontrastierende Bilder zwischen Schönheit und Hässlichkeit, Licht und Dunkelheit, Freiheit und Knechtschaft vereint. Die langen Zeilen und detaillierten Beschreibungen erzeugen eine intensive, fast erzählerische Atmosphäre.

Inhaltlich beschreibt das lyrische Ich seine Position in der Gesellschaft: Er fühlt sich wie „Stein unter Steinen“ und hockt in einer dunklen Ecke, während er die Schönheit und Exklusivität der anderen bewundert, ein starkes Bild für gesellschaftliche Ausgrenzung und Minderwertigkeitsgefühle. Dies ändert sich allerdings, als die Figur von Jesus erscheint, die zunächst schlafend und dann aufwachend dargestellt wird. Jesus bringt Leben in die ansonsten starre Szenerie und wandelt zwischen den Statuen, die nun ebenfalls zu leben scheinen. Die Ankunft Jesu erweckt auch im lyrischen Ich den Wunsch nach Leben und Freiheit. Am Ende des Gedichts gibt es jedoch einen Umschwung: Jesus sagt dem lyrischen Ich, dass seine Stunde noch nicht gekommen ist, was auf eine noch nicht erreichte Erlösung hinweist.

Formal weist das Gedicht eine freie Versform ohne durchgehendes Reimschema auf. Zudem fällt die Länge des Gedichts mit seinen 95 Versen auf. Sprachlich zeichnet sich das Gedicht durch seine Intensität und üppige Bildsprache aus. Es ist geprägt von metaphernreicher Sprache, die einerseits auf den Gegensatz zwischen Schönheit und Hässlichkeit, Licht und Dunkelheit und andererseits auf den Unterschied zwischen dem erlösten und dem nicht erlösten Zustand hindeutet.

Insgesamt lässt sich das Gedicht als ein intensives Ausdrucksmittel zur Darstellung individueller Sehnsüchte und sozialer Diskrepanz interpretieren, in dem die Figur von Jesus eine Hoffnung auf Erlösung und Wandel darstellt. Es verdeutlicht auf brillante Weise die menschliche Sehnsucht nach Anerkennung, soziale Marginalisierung und den verzweifelten Wunsch nach Umwandlung und Freiheit.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Jesus der Künstler“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Der Autor Richard Dehmel wurde 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1893. Der Erscheinungsort ist München. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Dehmel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 599 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 95 Versen. Die Gedichte „Bann“, „Bastard“ und „Bitte“ sind weitere Werke des Autors Richard Dehmel. Zum Autor des Gedichtes „Jesus der Künstler“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 522 Gedichte vor.

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