Jahreswechsel von Louise Otto-Peters

Wenn hoch vom Turm die Glocken klingen,
In mitternächtlich ernster Stund’
Des Jahres Scheidegruß zu bringen:
Dann lauschen wir, als werd’ uns kund,
Was nun der neue Lauf der Horen
Uns Erdenpilgern bieten mag –
Das Jahr ward neuverjüngt geboren
Und festlich grüßt sein erster Tag.
 
Doch ist vergeblich alles Fragen,
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Die Antwort lautet immer gleich:
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Propheten sind aus unsern Tagen
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Verbannt ins dunkle Sagenreich.
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Kein Blick darf in die Werkstatt schweifen,
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In der des Menschen Los sich webt,
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Kein Arm in das Getriebe greifen,
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Das Schicksals-Fäden senkt und hebt!
 
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Das mußten alle wir erfahren
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In unsrer Lieben engem Kreis –
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Gebrochen müssen wir gewahren
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Manch hoffnungsgrüne frisches Reis,
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Und wo wir’s ahnend kaum vermutet,
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Da kam uns Rettung aus der Not,
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Indessen dort ein Herz verblutet
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Weil ihm sein Liebstes nahm der Tod!
 
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Nur eitel ist das ird’sche Hoffen,
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Das sich an äußre Zeichen hält,
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Ist nicht in uns ein Himmel offen,
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Von dem kein Stern herunterfällt.
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Wie sehr auch Sturm und Donner wettert
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Und frische Hoffnungssaat zerschlägt
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Und alle Rosen uns entblättert,
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Wie Staub in alle Winde trägt. –
 
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Ein Himmel, den wir sicher schauen,
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Wenn sich der Blick nur aufwärts hebt,
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Ein Himmel, den wir selber bauen,
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Wenn wir zum höchsten Ziel gestrebt,
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Ein Himmel, draus seit Ewigkeiten
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Zu uns die Schöpfungsformel spricht,
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Die heiligste für alle Zeiten:
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Kein Chaos mehr! – es werde Licht!
 
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Kein Chaos mehr – in unserm Leben,
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Kein Chaos mehr im Vaterland!
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Es werde Licht, – dies unser Streben,
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Die Waffe dies in unsrer Hand.
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Des Gottesfunkens treue Wächter
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An heil’ger Freiheit Hochaltar,
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Und Feinde aller Lichtverächter:
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So grüßen wir das neue Jahr.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.2 KB)

Details zum Gedicht „Jahreswechsel“

Anzahl Strophen
6
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
268
Entstehungsjahr
1860-1870
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Jahreswechsel“ wurde von der deutschen Dichterin Louise Otto-Peters verfasst, die von 1819 bis 1895 lebte und als eine frühe Vertreterin der Frauenbewegung bekannt ist. Das Gedicht entstand daher im 19. Jahrhundert, einer Zeit in der literarischen Epoche des Realismus.

Inhaltlich handelt das Gedicht vom Übergang eines alten Jahres in ein neues. Im ersten Teil des Gedichts zeichnet das lyrische Ich ein Bild der Mitternachtsglocke, die den Beginn eines neuen Jahres verkündet. Dabei entsteht eine gespannte, erwartungsvolle Atmosphäre. Das lyrische Ich drückt aus, dass es unsicher ist, was das neue Jahr bringen wird. In der zweiten Strophe wird diese Unsicherheit vertieft, indem darauf hingewiesen wird, dass niemand die Zukunft vorhersagen oder das Schicksal beeinflussen kann.

In der dritten und vierten Strophe thematisiert das Gedicht dann die Vergänglichkeit und die Unvorhersehbarkeit des Lebens. Es werden Beispiele für Leiden und Schmerz gegeben, aber auch für unerwartete Rettung. Das lyrische Ich regt an, dass angemessene Reaktionen auf diese Unvorhersehbarkeiten nicht in äußeren Anzeichen oder Symbolen gefunden werden, sondern im Inneren, im „Himmel in uns“, der nie verschwindet, auch wenn äußere Hoffnungen zerstört werden.

Die letzte Strophe des Gedichts bietet schließlich einen optimistischen Ausblick. Der Wunsch des lyrischen Ichs und die Absicht für das kommende Jahr ist es, Licht in das eigene Leben und in das Vaterland zu bringen, um das Chaos zu beenden. Es spricht von einem Streben nach Freiheit und von der Ablehnung all jener, die das Licht verachten.

Hinsichtlich der Form lässt sich feststellen, dass das Gedicht aus sechs Strophen besteht, die jeweils acht Verse umfassen. Die Sprache des Gedichts ist relativ einfach und verständlich, allerdings mit einer feierlich-ernsten Stimmung. Der Gebrauch von religiöser und symbolischer Sprache wie „Himmel“, „Licht“, „Gottesfunken“ und „Hochaltar“ stellt zudem einen Bezug zur christlichen Tradition und Kultur her und trägt zur übergeordneten Botschaft von Hoffnung, Erneuerung und Transformation bei. Den Abschluss bildet ein Aufruf, das neue Jahr als eine Chance für positive Veränderung zu begrüßen.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Jahreswechsel“ der Autorin Louise Otto-Peters. Geboren wurde Otto-Peters im Jahr 1819 in Meißen. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1870 zurück. Erschienen ist der Text in Leipzig. Eine Zuordnung des Gedichtes zur Epoche Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten der Autorin vorgenommen werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das vorliegende Gedicht umfasst 268 Wörter. Es baut sich aus 6 Strophen auf und besteht aus 48 Versen. Die Dichterin Louise Otto-Peters ist auch die Autorin für Gedichte wie „An Alfred Meißner“, „An August Peters“ und „An Byron“. Zur Autorin des Gedichtes „Jahreswechsel“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 106 Gedichte vor.

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