Ja, könnt’ ich mich in deinen Frieden schmiegen von Marie Eugenie Delle Grazie

Ja, könnt’ ich mich in deinen Frieden schmiegen,
Du Port, der mir nun winkt zu kurzer Rast!
Was in mir tobt und wühlt und gährt besiegen:
Des Lebens ganze, glüh’nde Fieberhast
 
Mir wäre wohl vielleicht – ich kann nicht sagen
Gewiß – denn trüb und unstät ist mein Sinn,
Nicht blieb ich, die ich war in früh’ren Tagen,
Wie könnt’ ich bleiben, die ich heute bin?
 
Du scheinst so träumend und weltabgeschieden
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Zu ruhen fern’ dem wüsten Lebensstrom,
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Und doch – umbraust nicht ringsum deinen Frieden
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Die Stadt der schlimmsten, tollsten Kämpfe – Rom?!
 
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Der Nam’ allein – läßt er dich nicht erschauern?
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Weißt du wie Viel und Was er in sich faßt?
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Ich, ahntest du’s! Nicht stünden deine Mauern,
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Noch böt’ dein Friede mir solch’ traute Rast!
 
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Denn siehe: Rom begreift in sich das Leben
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Mit allen Schrecken, denen du entfloh’n,
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Mit jeder Wonne, der du dich begeben,
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Mit seinem schwülen Glück und eis’gen Hohn
 
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Da siehe! ringsum seiner Kämpfe Reste:
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Zerbroch’ne Scepter, moderndes Gebein,
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Verlass’ne Tempel, bröckelnde Paläste,
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Zerstörter Foren Marmor-Wüstenei’n!
 
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Und Schlimm’res noch: besudelte Altäre.
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Zertret’ne Götterleiber hier und dort,
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Zerstampft von den Kothurnen wüster Heere,
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Befleckt von ihren Freveln jeder Ort!
 
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Und dennoch – diese Frevel, sie bedeuten
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Des Lebens tiefsten, innersten Gehalt:
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Ja schaud’re! blutig müssen uns’re Beuten
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Und heilig sein, das kitzelt die Gewalt;
 
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Das spornt nicht nur Erob’rer und Empörer,
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Zum Kampf, das wühlt uns Allen toll im Hirn
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Und schreibt als Brandmal Kain’s das Wort: „Zerstörer!“
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In tiefen Furchen früh auf uns’re Stirn....
 
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Ob ich’s gefühlt? Ob ich auch dies empfunden?
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Ob ich ihn theile, diesen frevlen Ruhm?
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Gewiß! er schlug die tiefste meiner Wunden,
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So herb als süß war sein Mysterium!
 
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Wie Rom liegt in Ruinen nun mein Leben
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Und alle Träume, alle Götter drin,
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Doch über ihre Grüfte hinzuschweben,
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Das reizt und spornt so wonnig meinen Sinn,
 
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Das drängt so stolz der Wehmuth fromme Thränen
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In’s heiße Kämpferauge mir zurück,
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Daß ich empfind’: in diesem glühnden Sehnen
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Allein ruh’ meines Ich’s geheimstes Glück!
 
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Wie du in Rom – so steht in meinem Leben
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Der Friede: nur zu kurzer Rast gesucht,
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Um dann auf’s Neue wild hinauszustreben
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Auf’s off’ne Lebensmeer aus sich’rer Bucht –
 
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Hinweg! hinweg! schon glühen meine Wangen,
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Erröthend, daß dein Zauber mich bethört –
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Er hielt in mir den schlimmsten Feind gefangen,
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Denn lieben kann ich nur, was ich zerstört....
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (30 KB)

Details zum Gedicht „Ja, könnt’ ich mich in deinen Frieden schmiegen“

Anzahl Strophen
14
Anzahl Verse
56
Anzahl Wörter
405
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht wurde von Marie Eugenie Delle Grazie geschrieben, die von 1864 bis 1931 lebte. Daher kann man das Gedicht zeitlich in die Epoche des Realismus einordnen, ein literarischer Stil, der typischerweise die Wirklichkeit des Alltagslebens darstellt.

Beim ersten Lesen fällt auf, dass das lyrische Ich eine starke Sehnsucht nach Frieden, Ruhe und Rast zeigt. Es scheint jedoch in einem inneren Konflikt verstrickt zu sein und widerstreitende Gefühle und Ansichten zu haben.

Das Gedicht beginnt mit dem Wunsch des lyrischen Ichs, sich in einen Zustand des Friedens zu begeben, und bezieht sich auf einen „Hafen“, der ihm eine kurze Ruhepause bietet. Es stellt jedoch fest, dass es nicht mehr der Mensch ist, der es einst war, und sich daher nicht mehr an seine frühere Ruhe erinnern kann. Das lyrische Ich nimmt danach Bezug auf die Stadt Rom, die es sowohl als friedvoll und abgeschieden, als auch als Ort der Kämpfe und Zerstörung beschreibt.

In den folgenden Strophen geht das lyrische Ich tiefer auf die gegensätzlichen Seiten der Stadt Rom ein, wobei es einerseits die Schönheit und den Frieden hervorhebt, andererseits aber auch die Verwüstung und Zerstörung durch Kriege und Auseinandersetzungen betont. Es scheint dabei eine Parallele zu ziehen zwischen diesem zerstörten Rom und seinem eigenen, innerlich zerrissenen Zustand. In den letzten Versen wird deutlich, das lyrische Ich sehnt sich nach Frieden, fühlt sich jedoch gleichzeitig zu Dynamik, Kampf und Zerstörung hingezogen.

Das Gedicht besteht aus vierzehn gleich strukturierten Strophen mit jeweils vier Versen, was eine klare und strenge Form vermittelt. Die Sprache ist bildreich und emotional, mit vielen starken Verben und bildhaften Beschreibungen, die das innere Ringen des lyrischen Ichs und seine konfliktreiche Sicht auf die Welt noch weiter betonen.

Zusammenfassend könnte man sagen, dass dieses Gedicht den inneren Konflikt zwischen Sehnsucht nach Frieden und Rast und der gleichzeitigen Anziehungskraft von Dynamik, Aktivität und Zerstörung darstellt. Es zeigt einen Menschen in einer Zeit des Wandels und der Unsicherheit, der mit seinen inneren Widersprüchen und Ängsten ringt.

Weitere Informationen

Marie Eugenie Delle Grazie ist die Autorin des Gedichtes „Ja, könnt’ ich mich in deinen Frieden schmiegen“. Geboren wurde Delle Grazie im Jahr 1864 in Weißkirchen (Bela Crkva). 1892 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Delle Grazie ist eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das 405 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 56 Versen mit insgesamt 14 Strophen. Marie Eugenie Delle Grazie ist auch die Autorin für das Gedicht „Abend wird es“, „Abendsonnenschein“ und „Abschied“. Zur Autorin des Gedichtes „Ja, könnt’ ich mich in deinen Frieden schmiegen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 71 Gedichte veröffentlicht.

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