In der Certosa von Rainer Maria Rilke

Ein jeder aus der weißen Bruderschaft
vertraut sich pflanzend seinem kleinen Garten.
Auf jedem Beete steht wer jeder sei.
Und einer harrt in heimlichen Hoffahrten,
daß ihm im Mai
die ungestümen Blüten offenbarten
ein Bild von seiner unterdrückten Kraft.
 
Und seine Hände halten, wie erschlafft,
sein braunes Haupt, das schwer ist von den Säften,
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die ungeduldig durch das Dunkel rollen,
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und sein Gewand, das faltig, voll und wollen,
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zu seinen Füßen fließt, ist stramm gestrafft
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um seinen Armen, die, gleich starken Schäften,
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die Hände tragen, welche träumen sollen.
 
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Kein Miserere und kein Kyrie
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will seine junge runde Stimme ziehn,
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vor keinem Fluche will sie fliehn;
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sie ist kein Reh.
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Sie ist ein Roß und bäumt sich im Gebiß,
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und über Hürde, Hang und Hindernis
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will sie ihn tragen weit und weggewiß,
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ganz ohne Sattel will sie tragen ihn.
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Er aber sitzt, und unter den Gedanken
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zerbrechen fast die breiten Handgelenke,
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so schwer wird ihm der Sinn und immer schwerer.
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Der Abend kommt, der sanfte Wiederkehrer,
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ein Wind beginnt, die Wege werden leerer,
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und Schatten sammeln sich im Thalgesenke.
 
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Und wie ein Kahn, der an der Kette schwankt,
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so wird der Garten ungewiß und hangt
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wie windgewiegt auf lauter Dämmerung.
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Wer löst ihn los? …
 
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Der Frate ist so jung,
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und langelang ist seine Mutter tot.
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Er weiß von ihr: sie nannten sie La Stanca;
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sie war ein Glas, ganz zart und klar. Man bot
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es einem, der es nach dem Trunk zerschlug
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wie einen Krug.
 
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So ist der Vater.
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Und er hat sein Brot
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als Meister in den roten Marmorbrüchen.
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Und jede Wöchnerin in Pietrabianca
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hat Furcht, daß er des Nachts mit seinen Flüchen
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vorbei an ihrem Fenster kommt und droht.
 
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Sein Sohn, den er der Donna Dolorosa
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geweiht in einer Stunde wilder Noth,
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sinnt im Arkadenhofe der Certosa,
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sinnt, wie umrauscht von röthlichen Gerüchen:
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denn seine Blumen blühen alle roth.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „In der Certosa“

Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
49
Anzahl Wörter
310
Entstehungsjahr
1906
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das lyrische Gedicht „In der Certosa“ wurde von dem deutschsprachigen Lyriker Rainer Maria Rilke verfasst, der von 1875 bis 1926 lebte. Der Titel des Gedichts verweist auf eine Kartause, einen europäischen Klosterorden, und der metaphernreiche, bildhafte Inhalt des Gedichts scheint sich um Themen wie Spiritualität, Natur und Identität zu drehen.

Das lyrische Ich des Gedichts scheint einen Mönch in der Klosteranlage Certosa zu beobachten und zu beschreiben. Es wird detailliert ausgeführt, wie dieser Mönch sich dem Gartenbau widmet, was als Metapher für das spirituelle Wachstum, Selbstvertrauen und innere Stärke interpretiert werden kann. Der Mönch erwartet offenbar, dass sich seine unterdrückte Kraft in den wilden Blüten offenbart, die im Mai sprießen. Die Anstrengung und Hingabe, die er in seine Arbeit steckt, werden durch die schwere Arbeit seiner Hände und die Fülle seines Gewandes hervorgehoben.

Ähnlich wie die Natur sich entfaltet und entwickelt, scheint sich auch das Verständnis des Mönchs von Spiritualität und Selbst zu entwickeln: Seine Stimme will sich nicht biegen, um Mitleids- oder Sühnegebeten Ausdruck zu verleihen, und er sitzt unter den Gedanken, deren Gewicht fast seine Handgelenke bricht. Während der Abend hereinbricht, werfen die aufkommenden Schatten eine dunkle Stimmung auf die Szene.

Am Ende des Gedichts wird die Beziehung zwischen dem Mönch und seinen Eltern offenbart, was erklärt, warum er sich der Donna Dolorosa geweiht hat. Er erinnert sich daran, dass seine Mutter, La Stanca, ein zerbrechliches Glas war, das nach dem Trinken zerbrochen wurde, und sein Vater wird als jemand beschrieben, der sein Brot in den Marmorsteinbrüchen verdiente und bei den Frauen des Ortes Furcht einflößt. Der rote Duft, der um den Mönch herum weht, könnte eine Metapher für die Leidenschaft, das Leiden oder die Sündhaftigkeit sein.

Formal besteht das Gedicht aus sieben identisch strukturierten Strophen unterschiedlicher Länge mit sieben, sieben, vierzehn, vier, sechs, sechs und fünf Versen. Diese unterschiedliche Länge verleiht dem Gedicht einen unregelmäßigen Rhythmus, der möglicherweise die Unvorhersehbarkeit und Nonkonformität des Protagonisten widerspiegelt. Die Sprache ist relativ einfach und unverschnörkelt, was die Themen und Bilder des Gedichts klar und verständlich macht.

Schließlich kann das Gedicht als Darstellung der spirituellen Suche und Selbstfindung interpretiert werden. Der Mönch ist eine Metapher für jeden Einzelnen, der versucht, seinen Platz in der Welt zu finden und Sinn und Bedeutung in seinem Leben zu finden. Darüber hinaus spiegelt das Gedicht das Innenleben des lyrischen Ichs wider und bietet eine tiefe und persönliche Reflexion über das menschliche Dasein und die Suche nach Identität.

Weitere Informationen

Das Gedicht „In der Certosa“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Rainer Maria Rilke. Geboren wurde Rilke im Jahr 1875 in Prag. 1906 ist das Gedicht entstanden. In Berlin / Leipzig, Stuttgart ist der Text erschienen. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Rilke ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 310 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 49 Versen. Die Gedichte „Abend“, „Abend in Skaane“ und „Absaloms Abfall“ sind weitere Werke des Autors Rainer Maria Rilke. Zum Autor des Gedichtes „In der Certosa“ haben wir auf abi-pur.de weitere 338 Gedichte veröffentlicht.

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