Im Kurpark von Wiesbaden von Heinrich Kämpchen

Hier, im Schatten der Plantane,
Am klaren Weiher, in milder Mailuft
Ruhe und raste ich. –
Wie schmeichelnd umkost der Zephyr Stirn und Wangen mir,
Wie kühlend der Lufthauch vom Taunuswald. –
Ein Kapua – weich, wohlig ist alles hier –
Erde und Himmel. –
Der zitternde Nervenstrang, verstimmt, mißhandelt vom Daseinskampf,
Von der Hast des Erwerbens, vom schrillen Taglaut –
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Glättet sich wieder. – Gesundung! Ruhe! –
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Gesundung! flüstern die Baumriesen, flötet die Nachtigall
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Und lispeln die unterirdischen Quellen, tief, tief im Erdbauch.
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Gesundung! Ruhe! –
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Wie Delos heiliger Hain, wie der singende Wald Merlins
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Mutet’s mich an – o Schönheit! –
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Vergessen die Plage, vergessen der Schmerz. –
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Wandeln in lichten Räumen – funkelnd, prächtig – o Schönheit! –
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Und auch mir wird wohl – die müden Augen weiten sich wieder,
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Das Herz pulst frischer, das Ohr lauscht fernen Harmonien
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Und die Seele träumt. – Träumt vom Zukunftshoffen,
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Vom Völkerfrieden, vom Glücke der Menschheit. –
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Wieder der singende Wald mit dem Liede der Drossel.
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Der Tag neigt zum Abend. –
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An mir vorbei flutet das Leben – buntfarbig, wechselnd –
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Ein Kaleidoskop in immer neuer Gestaltung. –
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Ich sehe das Weib in allen seinen Stadien von Rasse und Schönheit –
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In seiner Vollendung an Leib und Seele und –
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In seinem Tiefgang, umflort vom Gifthauch der Sünde –
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Aber immer noch schön. –
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Die blonde Tochter Albions, Frankreichs Sylphide
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Und das sonnenäugige Kind des Südens. –
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Schwarz- und goldhaarig – braun und rot –
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In allen Nuancen und Lichtern. –
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Asiens Vertreterinnen mit Mandelaugen und Bronzeteint,
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Das Weib von der Newa und die feurige Sarmatin. –
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An mir vorbei flutet der Reichtum – goldstrotzend,
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Schimmernd von edlen Steinen – der Reichtum des Parvenüs. –
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Aber auch der andere – einfach, vornehm –
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Mit Geist und Wissen, und ohne Pomp. –
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Ich sehe den Künstler mit wallendem Haar,
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Den Mann des Genusses und den ernstsinnenden Forscher.
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Ich sehe den Fahrstuhl mit seinem Inhalt an Leid und Menschenelend –
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Geschoben von den Händen des Mietlings im Taglohn. –
45 
Aber auch von Eltern- und Kindesliebe, und von der weichen,
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Kosenden Hand der Gattin und der starken des Gatten. –
47 
Mann und Frau geh’n vorüber – alt, gebrechlich, sich stützend –
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Mit Runzeln und Greisenhaar – aber sich liebend am Lebensabend. –
49 
Genesung suchen die Kranken hier von den warmen Quellen,
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Von der sonnigen Luft und der Kühle des Taunus –
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Genesung – und die Gesunden Genuß. – O prächtige Stadt!
52 
Der Tag geht zur Rüste. Einsam durchrudert ein Schwan den Waldsee –
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Fontänen stäuben Schaumperlen zum Himmel –
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Und durch dunkle Baumkronen blinkt das Abendrot. –
55 
Langsam erstirbt der Drossel Schlummerlied –
56 
Ein Lufthauch vom Taunus – dann Ruhe, Ruhe –
57 
Und mählich dämmert die Nacht. –
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.4 KB)

Details zum Gedicht „Im Kurpark von Wiesbaden“

Anzahl Strophen
1
Anzahl Verse
57
Anzahl Wörter
404
Entstehungsjahr
1909
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das vorgelegte Gedicht trägt den Titel „Im Kurpark von Wiesbaden“ und wurde von Heinrich Kämpchen verfasst, einem deutschen Dichter und Schriftsteller, der in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wirkte. Damit kann das Gedicht zeitlich der Epoche des Realismus zugeordnet werden.

Beim ersten Lesen entsteht der Eindruck einer sehr bildhaften, atmosphärischen und detailgetreuen Schilderung des Kurparks von Wiesbaden, die den Leser direkt in diese Szenerie versetzt. Es wird ein klarer Fokus auf Natur- und Landschaftsbildern gelegt, die eine Stimmung der Ruhe, Erholung und Schönheit vermitteln und zum Nachsinnen und Träumen anregen.

Inhaltlich beschreibt das lyrische Ich seinen Aufenthalt im Kurpark, angefangen beim lauen Maiwetter und den sanften Windhauchen, die beruhigend auf seine Sinne wirken, bis hin zur detaillierten Beobachtung des vielfältigen Parklebens und der unterschiedlichen Menschen, die dort unterwegs sind. Es wird eine Vielfalt von Eindrücken und Stimmungen wiedergegeben, von der Schönheit der Natur, der Vielfalt des Lebens bis hin zur Auseinandersetzung mit Krankheit und Alter. Besonders auffällig ist dabei der wiederkehrende Appell an die Heilkraft der Natur und des Parks („Gesundung! Ruhe!“).

Von der formalen Gestaltung her handelt es sich um ein sehr langes, strophenloses Gedicht mit einem freien Versmaß. Im Sinne des Realismus legt Kämpchen großen Wert auf eine möglichst genaue, naturalistische Darstellung, was sich auch in seiner detaillierten und sinnlichen Sprache widerspiegelt. Die Sprache des Gedichts ist dabei durchweg gehoben und pathetisch, verwendet werden mythologische und historische Anspielungen („Delos heiliger Hain“, „der singende Wald Merlins“), aber auch landschaftliche und volkstümliche Bilder und Metaphern.

Das Gedicht „Im Kurpark von Wiesbaden“ von Heinrich Kämpchen ist also eine atmosphärische, detailgetreue und poetische Darstellung des gleichnamigen Ortes, die den Leser in eine Welt der Ruhe, Schönheit und Reflexion entführt. Es vermittelt einen tiefen Einblick in die vorherrschende Stimmung und Vielfalt dieses Ortes, von der Schönheit der Natur bis hin zur menschlichen Vielfalt und Lebensrealität.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Im Kurpark von Wiesbaden“ ist Heinrich Kämpchen. 1847 wurde Kämpchen in Altendorf an der Ruhr geboren. Im Jahr 1909 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Bochum. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das 404 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 57 Versen mit nur einer Strophe. Weitere bekannte Gedichte des Autors Heinrich Kämpchen sind „Abend am Rhein“, „Abendläuten“ und „Altendorf“. Zum Autor des Gedichtes „Im Kurpark von Wiesbaden“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 165 Gedichte vor.

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