Im Dom zu Naumburg von Louise Otto-Peters

„Den obdachlosen Ritter, den armen mag ich nicht,
Ich mag nicht Minnedienste, mich bindet höhre Pflicht
Ihr, ohne Ruhm und Schätze wagt doch um mich zu freien?
Nehmt das zurück, sonst möcht ich Euch noch des Irrsinns zeihen!“
 
So sprach mit Hohn, das Fräulein zum armen Rittersmann,
Daß nur mit Müh er Fassung bei solchem Wort gewann,
Er neigt sich vor der Kalten, die er so heiß verehrt
Und die mit schnödem Abschied sich also von ihm kehrt.
 
Auf ihres Schlosses Zinne das stolze Fräulein stand,
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Hielt einen Specht gefangen in ihrer kleinen Hand.
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„Du, Vöglein, sollst es mir sagen, Dir will ich’s anvertrauen,
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Wo ich von meinen Schätzen den Tempel des Herrn soll bauen?“
 
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Der Specht begann zu kreisen bis daß zur Stell’ er kam,
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Wo zwischen hohen Linden er seinen Platz sich nahm.–
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Drauf sah man dort die Bauleut geschäftig von früh bis nächten,
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Damit sie bald das Bauwerk, des herrlichen Doms vollbrächten.
 
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Hei, wie die Gruftgewölbe erstanden meisterlich,
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Wie kühne Strebepfeiler zur Höhe schwingten sich,
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Wie schön die Marmorplatten und dreingehaune Bilder,
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Wie prangten die Bogenfenster und buntgemalte Schilder! –
 
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Doch war des Fräuleins Reichtum gar schnell zu Ende nun,
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Und die geschäft’gen Hände, sie mußten alle ruhn.
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Wie war der Stolzen Schönheit durch dreißig Jahr geschwunden –
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„Ich kann den Dom nicht vollenden!“ seufzt sie in bangen Stunden.
 
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Da trat ein fremder Pilger urplötzlich vor sie hin,
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Er kam vom heiligen Grabe und kam mit gläubigem Sinn.
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Das war der erst verhöhnte der armgescholt’ne Freier,
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Der sprach: „Reich komm ich wieder zu Eurer Tempelfeier.“
 
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„In dem gelobten Lande fand Ruhm und Schätze ich viel,
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So will denn ich vollenden, was Euer stolzes Ziel,
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So wachsen diese Hallen uns zum Versöhnungszeichen!“
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Beschämung auf dem Antlitz thät sie die Hand ihm reichen. –
 
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Das ist die alte Märe, die man vom Dome sagt
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Wo Trotz und Stolz gewaltet und Liebe nicht verzagt.
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Ob wohl auch jetzt da drinnen manch frevler Stolz noch waltet
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Und Liebe ihre Schwingen noch also treu entfaltet?
 
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Es stehn in Stein gehauen Fräulein und Ritter da,
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Es sitzt der Specht noch immer, wo man ihn sitzen sah.
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Er weilt noch stumm in dem Tempel von Menschenhänden erbaut –
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Doch draußen schmettern im Freien viel lebende Vögel laut.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (28.6 KB)

Details zum Gedicht „Im Dom zu Naumburg“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
372
Entstehungsjahr
1840-1850
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Im Dom zu Naumburg“ wurde von Louise Otto-Peters geschrieben, die von 1819 bis 1895 lebte. Sie war eine bedeutende deutsche Schriftstellerin und Frauenrechtlerin des 19. Jahrhunderts. Ihr Werk kann daher der Epoche des Realismus zugeordnet werden.

Beim ersten Lesen des Gedichts fällt die Verwendung von mittelalterlichen Motiven und Bildern wie Ritter, Fräulein, Tempelbau und Pilgerfahrt auf. Das lyrische Ich scheint dem Genre der Ballade nahezu treu zu bleiben und erzählt eine Geschichte, die moralische und charakterliche Aspekte der handelnden Personen beleuchtet.

Inhaltlich geht es in dem Gedicht um eine stolze Frau, die einen armen Ritter, der um sie wirbt, abweist. Sie hat höhere Ansprüche und lässt sich auf keinen Minnedienst ein. Stattdessen beauftragt sie den Bau eines Domes, der allerdings aufgrund ihres schnellen Reichtumsverlustes nicht fertiggestellt werden kann. Nach vielen Jahren kehrt der einst verschmähte Ritter als reicher Mann zurück und vollendet den Bau des Domes zur Versöhnung mit dem stolzen Fräulein.

Die Form des Gedichts ist eine regelmäßige Strophen- und Versform mit jeweils vier Versen pro Strophe. Diese Struktur erinnert an die typisch mittelalterliche Dichtung, was sich mit dem Inhalt gut deckt. Die Sprache des Gedichts ist verständlich und einfach gehalten, wobei jedoch auch archaisch-mittelalterliche und stimmungsvolle Ausdrücke wie „Minnedienste“, „Tempelfeier“ oder „gelobtes Land“ verwendet werden.

Die Erzählweise des lyrischen Ichs in simplen Worten lässt den Leser die Geschichte leicht nachvollziehen. Die moralische Instanz des lyrischen Ichs bemerkt anhand des Fortlaufs der Geschichte das Wesen von Stolz und Demut. Die Frage am Ende stellt einen Appell an den Leser dar, aktuell existierende Machtverhältnisse und die Rolle der Liebe zu reflektieren.

Die bewusste Verwendung von Elementen aus dem Mittelalter lässt darauf schließen, dass dies als Metapher für aktuelle gesellschaftliche Zustände und Verhaltensweisen dient. Insbesondere die Darstellung der stolzen und geldgierigen Frau könnte eine Kritik an den damaligen Geschlechterrollen und Wertevorstellungen sein, die von Louise Otto-Peters als Frauenrechtlerin abgelehnt wurden.

Weitere Informationen

Louise Otto-Peters ist die Autorin des Gedichtes „Im Dom zu Naumburg“. Otto-Peters wurde im Jahr 1819 in Meißen geboren. Im Jahr 1850 ist das Gedicht entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her der Epoche Realismus zuordnen. Die Richtigkeit der Epoche sollte vor Verwendung geprüft werden. Die Zuordnung der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da es keine starren zeitlichen Grenzen bei der Epochenbestimmung gibt, können hierbei Fehler entstehen. Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 372 Worte. Weitere bekannte Gedichte der Autorin Louise Otto-Peters sind „Am Schluß des Jahres 1849“, „Am längsten Tage“ und „An Alfred Meißner“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Im Dom zu Naumburg“ weitere 106 Gedichte vor.

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