Ilmenau von Johann Wolfgang von Goethe
am 3. September 1783
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Anmuthig Thal! du immergrüner Hain! |
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Mein Herz begrüßt euch wieder auf das beste; |
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Entfaltet mir die schwerbehangnen Äste, |
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Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein, |
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Erquickt von euren Höhn, am Tag der Lieb’ und Lust, |
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Mit frischer Luft und Balsam meine Brust! |
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Wie kehrt’ ich oft mit wechselndem Geschicke, |
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Erhabner Berg! an deinen Fuß zurücke. |
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O laß mich heut an deinen sachten Höhn |
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Ein jugendlich, ein neues Eden sehn! |
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Ich hab’ es wohl auch mit um euch verdienet: |
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Ich sorge still, indeß ihr ruhig grünet. |
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Laßt mich vergessen, daß auch hier die Welt |
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So manch Geschöpf in Erdefesseln hält, |
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Der Landmann leichtem Sand den Samen anvertraut |
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Und seinen Kohl dem frechen Wilde baut, |
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Der Knappe karges Brot in Klüften sucht, |
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Der Köhler zittert, wenn der Jäger flucht. |
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Verjüngt euch mir, wie ihr es oft gethan, |
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Als fing’ ich heut ein neues Leben an. |
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Ihr seid mir hold, ihr gönnt mir diese Träume, |
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Sie schmeicheln mir und locken alte Reime. |
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Mir wieder selbst, von allen Menschen fern, |
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Wie bad’ ich mich in euren Düften gern! |
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Melodisch rauscht die hohe Tanne wieder, |
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Melodisch eilt der Wasserfall hernieder; |
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Die Wolke sinkt, der Nebel drückt in’s Thal, |
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Und es ist Nacht und Dämmrung auf einmal. |
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Im finstern Wald, bei’m Liebesblick der Sterne, |
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Wo ist mein Pfad, den sorglos ich verlor? |
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Welch seltne Stimmen hör’ ich in der Ferne? |
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Sie schallen wechselnd an dem Fels empor. |
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Ich eile sacht zu sehn, was es bedeutet, |
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Wie von des Hirsches Ruf der Jäger still geleitet. |
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Wo bin ich? ist’s ein Zaubermährchen-Land? |
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Welch nächtliches Gelag am Fuß der Felsenwand? |
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Bei kleinen Hütten, dicht mit Reis bedecket, |
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Seh’ ich sie froh an’s Feuer hingestrecket. |
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Es dringt der Glanz hoch durch den Fichten-Saal; |
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Am niedern Herde kocht ein rohes Mahl; |
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Sie scherzen laut, indessen bald geleeret |
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Die Flasche frisch im Kreise wiederkehret. |
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Sagt, wem vergleich’ ich diese muntre Schaar? |
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Von wannen kommt sie? um wohin zu ziehen? |
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Wie ist an ihr doch alles wunderbar! |
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Soll ich sie grüßen? soll ich vor ihr fliehen? |
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Ist es der Jäger wildes Geisterheer? |
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Sind’s Gnomen, die hier Zauberkünste treiben? |
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Ich seh’ im Busch der kleinen Feuer mehr; |
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Es schaudert mich, ich wage kaum zu bleiben. |
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Ist’s der Ägyptier verdächtiger Aufenthalt? |
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Ist es ein flüchtiger Fürst wie im Ardenner-Wald? |
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Soll ich Verirrter hier in den verschlungnen Gründen |
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Die Geister Shakespeare’s gar verkörpert finden? |
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Ja, der Gedanke führt mich eben recht: |
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Sie sind es selbst, wo nicht ein gleich Geschlecht! |
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Unbändig schwelgt ein Geist in ihrer Mitten, |
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Und durch die Rohheit fühl’ ich edle Sitten. |
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Wie nennt ihr ihn? Wer ist’s, der dort gebückt |
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Nachlässig stark die breiten Schultern drückt? |
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Er sitzt zunächst gelassen an der Flamme, |
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Die markige Gestalt aus altem Heldenstamme. |
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Er saugt begierig am geliebten Rohr, |
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Es steigt der Dampf an seiner Stirn empor. |
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Gutmüthig trocken weiß er Freud’ und Lachen |
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Im ganzen Cirkel laut zu machen, |
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Wenn er mit ernstlichem Gesicht |
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Barbarisch bunt in fremder Mundart spricht. |
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Wer ist der andre, der sich nieder |
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An einen Sturz des alten Baumes lehnt, |
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Und seine langen feingestalten Glieder |
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Ekstatisch faul nach allen Seiten dehnt, |
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Und, ohne daß die Zecher auf ihn hören, |
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Mit Geistesflug sich in die Höhe schwingt, |
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Und von dem Tanz der himmelhohen Sphären |
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Ein monotones Lied mit großer Inbrunst singt? |
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Doch scheinet allen etwas zu gebrechen. |
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Ich höre sie auf einmal leise sprechen, |
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Des Jünglings Ruhe nicht zu unterbrechen, |
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Der dort am Ende, wo das Thal sich schließt, |
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In einer Hütte, leicht gezimmert, |
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Vor der ein letzter Blick des kleinen Feuers schimmert, |
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Vom Wasserfall umrauscht, des milden Schlafs genießt. |
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Mich treibt das Herz nach jener Kluft zu wandern, |
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Ich schleiche still und scheide von den andern. |
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Sei mir gegrüßt, der hier in später Nacht |
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Gedankenvoll an dieser Schwelle wacht! |
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Was sitzest du entfernt von jenen Freuden? |
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Du scheinst mir auf was Wichtiges bedacht. |
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Was ist’s, daß du in Sinnen dich verlierest, |
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Und nicht einmal dein kleines Feuer schürest? |
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„O frage nicht! denn ich bin nicht bereit, |
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Des Fremden Neugier leicht zu stillen; |
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Sogar verbitt’ ich deinen guten Willen; |
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Hier ist zu schweigen und zu leiden Zeit. |
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Ich bin dir nicht im Stande selbst zu sagen |
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Woher ich sei, wer mich hierher gesandt; |
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Von fremden Zonen bin ich her verschlagen |
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Und durch die Freundschaft festgebannt. |
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Wer kennt sich selbst? wer weiß was er vermag? |
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Hat nie der Muthige Verwegnes unternommen? |
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Und was du thust, sagt erst der andre Tag, |
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War es zum Schaden oder Frommen. |
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Ließ nicht Prometheus selbst die reine Himmelsgluth |
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Auf frischen Thon vergötternd niederfließen? |
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Und konnt’ er mehr als irdisch Blut |
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Durch die belebten Adern gießen? |
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Ich brachte reines Feuer vom Altar; |
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Was ich entzündet, ist nicht reine Flamme. |
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Der Sturm vermehrt die Gluth und die Gefahr, |
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Ich schwanke nicht, indem ich mich verdamme. |
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Und wenn ich unklug Muth und Freiheit sang |
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Und Redlichkeit und Freiheit sonder Zwang, |
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Stolz auf sich selbst und herzliches Behagen, |
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Erwarb ich mir der Menschen schöne Gunst: |
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Doch ach! ein Gott versagte mir die Kunst, |
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Die arme Kunst, mich künstlich zu betragen. |
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Nun sitz’ ich hier zugleich erhoben und gedrückt, |
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Unschuldig und gestraft, und schuldig und beglückt. |
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Doch rede sacht! denn unter diesem Dach |
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Ruht all mein Wohl und all mein Ungemach: |
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Ein edles Herz, vom Wege der Natur |
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Durch enges Schicksal abgeleitet, |
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Das, ahnungsvoll, nun auf der rechten Spur |
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Bald mit sich selbst und bald mit Zauberschatten streitet, |
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Und was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt |
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Mit Müh und Schweiß erst zu erringen denkt. |
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Kein liebevolles Wort kann seinen Geist enthüllen |
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Und kein Gesang die hohen Wogen stillen. |
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Wer kann der Raupe, die am Zweige kriecht, |
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Von ihrem künft’gen Futter sprechen? |
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Und wer der Puppe, die am Boden liegt, |
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Die zarte Schale helfen durchzubrechen? |
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Es kommt die Zeit, sie drängt sich selber los |
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Und eilt auf Fittigen der Rose in den Schoos. |
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Gewiß, ihm geben auch die Jahre |
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Die rechte Richtung seiner Kraft. |
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Noch ist bei tiefer Neigung für das Wahre |
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Ihm Irrthum eine Leidenschaft. |
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Der Vorwitz lockt ihn in die Weite, |
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Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal; |
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Der Unfall lauert an der Seite |
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Und stürzt ihn in den Arm der Qual. |
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Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung |
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Gewaltsam ihn bald da bald dort hinaus, |
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Und von unmuthiger Bewegung |
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Ruht er unmuthig wieder aus. |
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Und düster wild an heitern Tagen, |
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Unbändig ohne froh zu sein, |
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Schläft er, an Seel’ und Leib verwundet und zerschlagen, |
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Auf einem harten Lager ein: |
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Indessen ich hier still und athmend kaum |
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Die Augen zu den freien Sternen kehre, |
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Und, halb erwacht und halb im schweren Traum, |
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Mich kaum des schweren Traums erwehre.“ |
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Verschwinde Traum! |
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Wie dank’ ich, Musen, euch! |
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Daß ihr mich heut auf einen Pfad gestellet, |
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Wo auf ein einzig Wort die ganze Gegend gleich |
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Zum schönsten Tage sich erhellet; |
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Die Wolke flieht, der Nebel fällt, |
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Die Schatten sind hinweg. Ihr Götter, Preis und Wonne! |
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Es leuchtet mir die wahre Sonne, |
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Es lebt mir eine schönre Welt; |
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Das ängstliche Gesicht ist in die Luft zerronnen, |
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Ein neues Leben ist’s, es ist schon lang begonnen. |
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Ich sehe hier, wie man nach langer Reise |
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Im Vaterland sich wieder kennt, |
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Ein ruhig Volk in stillem Fleiße |
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Benutzen, was Natur an Gaben ihm gegönnt. |
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Der Faden eilet von dem Rocken |
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Des Webers raschem Stuhle zu; |
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Und Seil und Kübel wird in längrer Ruh |
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Nicht am verbrochnen Schachte stocken; |
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Es wird der Trug entdeckt, die Ordnung kehrt zurück, |
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Es folgt Gedeihn und festes ird’sches Glück. |
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So mög’, o Fürst, der Winkel deines Landes |
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Ein Vorbild deiner Tage sein! |
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Du kennest lang die Pflichten deines Standes |
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Und schränkest nach und nach die freie Seele ein. |
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Der kann sich manchen Wunsch gewähren, |
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Der kalt sich selbst und seinem Willen lebt; |
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Allein wer andre wohl zu leiten strebt, |
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Muß fähig sein, viel zu entbehren. |
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So wandle du – der Lohn ist nicht gering – |
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Nicht schwankend hin, wie jener Sämann ging, |
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Daß bald ein Korn, des Zufalls leichtes Spiel, |
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Hier auf den Weg, dort zwischen Dornen fiel; |
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Nein! streue klug wie reich, mit männlich stäter Hand, |
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Den Segen aus auf ein geackert Land; |
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Dann laß es ruhn: die Ernte wird erscheinen |
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Und dich beglücken und die Deinen. |
Details zum Gedicht „Ilmenau“
22
192
1357
3. September 1783
Sturm & Drang,
Klassik
Gedicht-Analyse
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Ilmenau“ des Autors Johann Wolfgang von Goethe. Goethe wurde im Jahr 1749 in Frankfurt am Main geboren. Im Jahr 1783 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei dem Schriftsteller Goethe handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.
Zwischen den Epochen Empfindsamkeit und Klassik lässt sich in den Jahren von 1765 bis 1790 die Strömung Sturm und Drang einordnen. Zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit sind häufige Bezeichnungen für diese Literaturepoche. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen das gesellschaftliche System und die Prinzipien der Aufklärung wendeten. Bei den Autoren handelte es sich meist um junge Schriftsteller. Meist waren die Vertreter unter 30 Jahre alt. Die Autoren versuchten in den Gedichten eine geeignete Sprache zu finden, um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Die Nachahmung und Idealisierung von Autoren aus vergangenen Epochen wie dem Barock wurde abgelehnt. Die traditionellen Werke wurden dennoch geschätzt und dienten als Inspiration. Es wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Die Epoche des Sturm und Drang endete mit der Hinwendung Schillers und Goethes zur Weimarer Klassik.
Die Weimarer Klassik war beeinflusst worden durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und mit dem Tod Goethes 1832 eingrenzen. Das Zentrum der Weimarer Klassik lag in Weimar. Häufig wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. Prägend für die Zeit der Klassik ist der Begriff Humanität. Toleranz, Menschlichkeit, Selbstbestimmung, Schönheit und Harmonie sind wichtige inhaltliche Merkmale der Klassik. Die Klassik orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike. In der Klassik wird eine sehr geordnete, einheitliche Sprache verwendet. Kurze, allgemeingültige Aussagen (Sentenzen) sind oftmals in Werken der Klassik zu finden. Da man die Menschen früher mit der Kunst und somit auch mit der Literatur erziehen wollte, legte man großen Wert auf Stabilität und formale Ordnung. Metrische Ausnahmen befinden sich oftmals an Stellen, die hervorgehoben werden sollen. Goethe, Schiller, Wieland und Herder bildeten das „Viergestirn“ der Weimarer Klassik. Es gab natürlich auch noch andere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.
Das vorliegende Gedicht umfasst 1357 Wörter. Es baut sich aus 22 Strophen auf und besteht aus 192 Versen. Die Gedichte „An den Selbstherscher“, „An die Entfernte“ und „An die Günstigen“ sind weitere Werke des Autors Johann Wolfgang von Goethe. Zum Autor des Gedichtes „Ilmenau“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1618 Gedichte veröffentlicht.
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Zum Autor Johann Wolfgang von Goethe sind auf abi-pur.de 1618 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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