Ich kam von meiner Herrin Haus von Heinrich Heine
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Ich kam von meiner Herrin Haus, |
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Und wandelt’ in Wahnsinn und Mitternachtgraus. |
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Und wie ich am Kirchhof vorüber gehn will, |
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Da winken die Gräber ernst und still. |
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Da winkt’s von des Spielmanns Leichenstein; |
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Das war der flimmernde Mondesschein. |
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Da lispelt’s: Lieb Bruder, ich komme gleich! |
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Da steigt’s aus dem Grabe nebelbleich. |
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Der Spielmann war’s, der entstiegen jetzt, |
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Und hoch auf den Leichenstein sich setzt. |
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In die Saiten der Zither greift er schnell, |
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Und singt dabei recht hohl und grell: |
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Ei! kennt Ihr noch das alte Lied, |
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Das einst so wild die Brust durchglüht, |
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Ihr Saiten dumpf und trübe? |
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Die Engel, die nennen es Himmelsfreud, |
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Die Teufel, die nennen es Höllenleid, |
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Die Menschen, die nennen es: Liebe! |
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Kaum tönte des letzten Wortes Schall, |
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Da thaten sich auf die Gräber all’; |
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Viel Luftgestalten dringen hervor, |
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Und umschweben den Spielmann und schrillen im Chor: |
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Liebe! Liebe! deine Macht |
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Hat uns hier zu Bett gebracht, |
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Und die Augen zugemacht, – |
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Ei, was rufst du in der Nacht? |
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So heult es verworren, und ächzet und girrt, |
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Und brauset und sauset, und krächzet und klirrt; |
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Und der tolle Schwarm den Spielmann umschweift, |
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Und der Spielmann wild in die Saiten greift: |
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Bravo! bravo! immer toll! |
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Seyd willkommen! |
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Habt vernommen |
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Daß mein Zauberwort erscholl, |
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Liegt man doch jahraus, jahrein, |
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Mäuschenstill im Kämmerlein; |
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Laßt uns heute lustig seyn! |
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Mit Vergunst, – |
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Seht erst zu, sind wir allein? – |
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Narren waren wir im Leben, |
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Und mit toller Wuth ergeben |
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Einer tollen Liebesbrunst. |
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Kurzweil soll uns heut nicht fehlen, |
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Jeder soll hier treu erzählen, |
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Was ihn weiland hergebracht, |
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Wie gehetzt, |
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wie zerfetzt |
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Ihn die tolle Liebesjagd. |
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Da hüpft aus dem Kreise, so leicht, wie der Wind, |
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Ein mageres Wesen, das summend beginnt: |
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Ich war ein Schneidergeselle, |
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Mit Nadel und mit Scheer’; |
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Ich war so flink und schnelle |
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Mit Nadel und mit Scheer’. |
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Da kam die Meisterstochter |
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Mit Nadel und mit Scheer’; |
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Und hat mir in’s Herz gestochen |
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Mit Nadel und mit Scheer’. |
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Da lachten die Geister im lustigen Chor; |
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Ein Zweiter trat still und ernst hervor: |
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Den Rinaldo Rinaldini, |
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Schinderhanno, Orlandini, |
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Und besonders Carlo Moor |
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Nahm ich mir als Muster vor. |
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Auch verliebt – mit Ehr’ zu melden – |
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Hab’ ich mich, wie jene Helden, |
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Und das schönste Frauenbild |
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Spukte mir im Kopfe wild. |
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Und ich seufzte auch und girrte; |
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Und wenn Liebe mich verwirrte, |
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Steckt’ ich meine Finger rasch |
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In des Herren Nachbars Tasch’. |
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Doch der Gassenvogt mir grollte, |
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Daß ich Sehnsuchtsthränen wollte |
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Trocknen mit dem Taschentuch, |
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Das mein Nachbar bei sich trug. |
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Und nach frommer Häschersitte |
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Nahm man still mich in die Mitte, |
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Und das Zuchthaus, heilig groß, |
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Schloß mir auf den Mutterschooß. |
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Schwelgend süß in Liebessinnen |
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Saß ich dort beim Wollespinnen, |
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Bis Rinaldos Schatten kam, |
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Und die Seele mit sich nahm. |
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Da lachten die Geister im lustigen Chor; |
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Geschminkt und geputzt trat ein Dritter hervor: |
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Ich war ein König der Bretter, |
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Und spielte im Liebhaberfach, |
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Ich brüllte manch wildes: Ihr Götter! |
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Ich seufzte manch zärtliches: Ach! |
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Den Mortimer spielt’ ich am besten, |
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Maria war immer so schön! |
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Doch trotz der natürlichsten Gesten |
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Sie wollte mich nimmer versteh’n. – |
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Einst als ich verzweifelnd am Ende |
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„Maria, du Heilige!“ rief, |
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Da nahm ich den Dolch behende – |
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Und stach mich ein bischen zu tief. |
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Da lachten die Geister im lustigen Chor; |
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Im weißen Flausch trat ein Vierter hervor: |
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Vom Katheder schwatzte herab der Professer, |
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Er schwatzt’, und ich schlief oft gut dabei ein; |
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Doch hätt’ mir’s behagt noch tausendmal besser |
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Bei seinem holdseligen Töchterlein. |
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Sie hatt’ mir oft zärtlich am Fenster genicket, |
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Die Blume der Blumen, mein Lebenslicht! |
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Doch die Blume der Blumen ward endlich gepflücket |
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Vom dürren Philister, dem reichen Wicht. |
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Da flucht ich den Weibern und reichen Halunken, |
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Und mischte mir Teufelskraut in den Wein, – |
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Und hab’ mit dem Tode Smollis getrunken, |
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Der sprach: Fiduzit, ich heiße Freund Hein! |
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Da lachten die Geister im lustigen Chor, |
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Einen Strick um den Hals trat ein Fünfter hervor: |
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Es prunkte und prahlte der Graf beim Wein |
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Mit dem Töchterchen sein und dem Edelgestein. |
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Was scheert mich, du Gräflein, dein Edelgestein, |
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Mir mundet weit besser dein Töchterlein. |
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Sie lagen wohl beid’ unter Riegel und Schloß, |
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Und der Graf besold’te viel Dienertroß. |
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Was scheeren mich Diener und Riegel und Schloß, – |
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Ich stieg getrost auf die Leitersproß. |
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An Liebchens Fensterlein klettr’ ich getrost, |
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Da hör’ ich es unten fluchen erbost: |
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„Fein sachte, mein Bübchen, muß auch dabei seyn, |
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Ich liebe ja auch die Edelgestein.“ |
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So spöttelt der Graf und erfaßt mich gar, |
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Und jauchzend umringt mich die Dienerschaar. |
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„Zum Teufel, Gesindel! Ich bin ja kein Dieb; |
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Ich wollte nur stehlen mein trautes Lieb!“ |
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Da half kein Gerede, da half kein Rath, |
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Da machte man hurtig die Stricke parat; |
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Wie die Sonne kam, da wundert sie sich, |
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Am hellen Galgen fand sie mich. |
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Da lachten die Geister im lustigen Chor; |
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Den Kopf in der Hand trat ein Sechster hervor. |
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Zum Waidwerk trieb mich Liebesharm; |
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Ich schlich umher, die Büchs’ im Arm. |
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Da schnarret’s hohl vom Baum herab, |
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Der Rabe rief: Kopf – ab! Kopf – ab! |
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O, spürt’ ich doch ein Täubchen aus, |
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Ich brächt’ es meinem Lieb nach Haus! |
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So dacht’ ich, und in Busch und Strauch |
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Späh’t rings umher mein Jägeraug’. |
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Was koset dort? was schnäbelt fein? |
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Zwei Turteltäubchen mögen’s seyn. |
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Ich schleich’ herbei, – den Hahn gespannt, – |
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Sieh’ da! mein eignes Lieb ich fand. |
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Das war mein Täubchen, meine Braut, |
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Ein fremder Mann umarmt sie traut, – |
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Nun, alter Schütze, treffe gut! |
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Da lag der fremde Mann im Blut’. |
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Bald drauf ein Zug mit Henkersfrohn – |
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Ich selbst dabei als Hauptperson – |
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Den Wald durchzog. Vom Baum herab |
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Der Rabe rief: Kopf – ab! Kopf – ab! |
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Da lachten die Geister im lustigen Chor; |
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Da trat der Spielmann selber hervor: |
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Ich hab’ mal ein Liedchen gesungen, |
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Das schöne Lied ist aus; |
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Wenn das Herz im Leibe zersprungen, |
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Dann gehen die Lieder nach Haus! |
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Und das tolle Gelächter sich doppelt erhebt, |
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Und die bleiche Schaar im Kreise schwebt. |
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Da scholl vom Kirchthurm’ „Eins“ herab, |
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Da stürzten die Geister sich heulend in’s Grab. |
Details zum Gedicht „Ich kam von meiner Herrin Haus“
Heinrich Heine
40
166
996
1817–1821
Junges Deutschland & Vormärz
Gedicht-Analyse
Das Gedicht, das wir hier interpretieren, stammt von dem deutschen Dichter Heinrich Heine aus dem 19. Jahrhundert.
Auf den ersten Blick handelt dieses lange Gedicht von einer ergreifenden Begegnung einer wandernden und emotional stark belasteten Person, deren Identität uns als das lyrische Ich präsentiert wird, mit verschiedenen Geistern auf einem Friedhof. Diese Begegnungen werden zu Geschichten von unterschiedlichen Personen und ihren Schicksalen, die alle auf tragische Weise durch Liebe in den Tod getrieben wurden.
Zunächst äußert das lyrische Ich seine seelische Zerrissenheit, die es aus dem Haus seiner Geliebten hervorgebracht hat. Es irrt in nächtlicher Dunkelheit und Wahnsinn umher und gelangt an einen Friedhof. Dort scheinen die Gräber und insbesondere das Grab eines Spielleute „lebendig“ zu werden. Das lyrische Ich wird Zeuge einer surreal anmutenden Szenerie, bei der die Geister der Verstorbenen aus ihren Gräbern steigen und ihre jeweiligen Geschichten erzählen. Alle diese tragischen Geschichten drehen sich um die Kraft der Liebe, die diese Menschen in den Tod geführt hat. Die Geister kehren mit dem ersten Glockenschlag wieder in ihre Gräber zurück.
Das Gedicht nutzt eine deutlich strukturierte Form mit überwiegend vierzeiligen Strophen und einem festen Reimschema. Die Sprache ist durchgehend klar und unprätentiös, und bedient sich dabei einer bildhaften Symbolik, die Emotionen und Absichten auf visuell eindrückliche Weise vermittelt.
Anhand dieser Deutung wird ersichtlich, dass Heine in diesem Gedicht seine Sicht auf die Liebe als eine Macht schildert, die in der Lage ist, Menschen sowohl in extreme Ekstase als auch in tiefste Verzweiflung und sogar in den Tod zu treiben. Gleichzeitig wird durch die Erzählungen der Geister die Vielschichtigkeit der menschlichen Erfahrung und das vielfältige Spektrum der Persönlichkeiten und Lebensgeschichten hervorgehoben. Damit betont Heine die universalen menschlichen Themen der Liebe, des Leids und des Todes und die tiefe Emotionalität, die mit ihnen verbunden ist.
Weitere Informationen
Heinrich Heine ist der Autor des Gedichtes „Ich kam von meiner Herrin Haus“. 1797 wurde Heine in Düsseldorf geboren. 1821 ist das Gedicht entstanden. Hamburg ist der Erscheinungsort des Textes. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Heine ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das 996 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 166 Versen mit insgesamt 40 Strophen. Heinrich Heine ist auch der Autor für Gedichte wie „Alte Rose“, „Altes Lied“ und „Am Golfe von Biskaya“. Zum Autor des Gedichtes „Ich kam von meiner Herrin Haus“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 535 Gedichte vor.
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