Ich habe dich erwartet! von Marie Eugenie Delle Grazie
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„Ich habe dich erwartet!“ und hernieder |
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Schritt lächelnd er und griff nach meiner Hand – |
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Entsetzen fuhr mir lähmend durch die Glieder, |
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Und Aug’ in Aug’ hielt ihm mein Grauen stand. |
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„Was schüttelt dich die Angst in meiner Nähe? |
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Ich bin nur Einer aus der Riesenzahl!“ |
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Und freundlich grinste er – mir war, als sähe |
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Ich dieses Grinsen nicht zum ersten Mal... |
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„Du siehst, ich kreuz’ nicht unhold deine Wege, |
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Sonst hätt’ ich deiner dort geharrt, wo schwül |
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Die Zauber der Vergangenheit noch rege – |
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Doch hier ist’s frei – und menschennah – und kühl – |
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Nicht hat Tiberius das Licht zu scheuen, |
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So lang’ ein Menschlein noch im Staube kreucht! |
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Nichts blieb ihm zu beweinen, zu bereuen, |
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Als etwa... doch, tritt hieher! Sieh, mir däucht, |
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An jener Stelle wär’ einst Blut geflossen! |
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Ein holder Knabe war’s: blondlockig, keck... |
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Auf jedem Pfad blüht’s hier von Purpur-Rosen |
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Um mich – sieh dorthin nur! Welch’ schöner Fleck!“ |
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Mein Herz stand stille; nur ein dumpfes Brausen |
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Und Hämmern dröhnte quälend mir im Ohr – |
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Sein Auge letzte sich an meinem Grausen, |
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Dann nickte er, hob meine Hand empor |
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Und sprach: „Ihr habt das Kreuz auf euch genommen, |
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Und schändet, mordet, haßt und schwelgt nicht mehr – |
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Ihr? Haha!“ und dürft nun schaudern kommen |
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Und aufseufzen: „Hier wüthete Tiber!“ |
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Ihr? Hahaha!“ und von den Felsen gellte |
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Und sprang sein Hohngelächter schrill zurück: |
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Es war, als ob ein Stein daran zerschellte, |
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Ein spitzer Stein – abbröckelnd Stück für Stück... |
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„O wie ich euch veracht’! Wie ich euch immer |
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Verachtet habe!“ und sein Augenpaar |
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Durchflog ein irres, grünliches Geflimmer, |
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Im Winde flatterte das nächt’ge Haar. – |
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„Ihr seid – dieselben noch! noch ist die Lüge |
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Ein Gottesdienst und Dünkel der Altar – |
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Einfraß in euer Hirn, in eure Züge |
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Sich ihrer Nothzucht Schandmal! Nichts ist wahr |
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Am Menschen, als die Frechheit, ihr zu dienen! |
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Verdammt ihr noch den blutigen Tiber, |
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Deß’ Gräuel diese traurigen Ruinen |
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Erzählen, ragend über Land und Meer – |
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Dann wißt: er sloh hieher, um nicht zu scheinen, |
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Was er nie war! Der bess’re Mensch hat hier |
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Gehaust, gewüthet... einer eurer „Reinen“ |
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Warf hier die Maske ab und ward – ein Thier! |
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Und wälzte sich wie ihr im geilen Bade |
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Der Lust – nur zeigte er auch seinen Schmutz – |
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Und haßte, würgte, ohne Wahl und Gnade – |
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Nur bat er nicht wie ihr um Gottes Schutz |
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Dazu! Nur heuchelte er nicht Erbarmen, |
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Wo schadenfroh sein Herz auflachte – nur |
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Zwang er sich nicht, den Gegner zu umarmen, |
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Wenn er den Tod ihm wünschte, und Natur |
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Zu leugnen, wenn sie ihre Bestientatzen |
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In’s Fleisch ihm grub mit wollüstigem Schmerz – |
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Ihr zeigt stets weiche Hände, glatte Fratzen – |
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Die Tigerkrallen wuchsen euch in’s – Herz! |
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Ich war Tiber und hatt’ den Muth, es bleiben |
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Zu wollen! Dies allein ist’s, was uns trennt – |
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Ich war ein adlig Thier... mein Schwelgen, Treiben |
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Vermacht’ ich euch, daß ihr einst schaudern könnt |
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Und – mir nach-wüthen in geheimen Stunden, |
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Wenn euch kein And’rer sieht, als euer Gott... |
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Ich neid’ ihm nicht das Volk, das er gefunden!“ |
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Und wieder grinste er – satan’schen Spott |
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Und Hohn im tigerhaften Angesichte; |
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Dann wies er siegreich über Land und Meer |
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Und rief: „Er lebt nicht nur in der Geschichte, |
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In jeder Menschenbrust lacht ein Tiber!“ |
Details zum Gedicht „Ich habe dich erwartet!“
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1892
Realismus
Gedicht-Analyse
Das vorliege Gedicht „Ich habe dich erwartet“ wurde von Marie Eugenie Delle Grazie verfasst, einer österreichischen Dichterin, die von 1864 bis 1931 lebte.
In dem Gedicht begegnet das lyrische Ich einer männlichen Figur, mit der es anscheinend schon vertraut ist. Die Worte „Ich habe dich erwartet!“ und das Grinsen des Mannes wirken zwar auf den ersten Blick freundlich, erzeugen durch das Grauen und Entsetzen des lyrischen Ichs jedoch eine bedrohliche Atmosphäre. Die Gestalt, die von Delle Grazie als „Tiber“ benannt wird, scheint eine Art personifizierte Gewalt oder Bosheit zu repräsentieren, vor der das lyrische Ich gleichzeitig Angst hat und von der es fasziniert ist.
Die Inhaltsangabe könnte folgendermaßen lauten: Das lyrische Ich empfindet Grauen und Furcht vor dieser Gestalt, gibt sich aber auch dessen Überlegenheit und der eigenen Schuld bewusst. Der Dialog zwischen den beiden offenbart, dass das lyrische Ich gleichzeitig von Tiber abgestoßen und angezogen wird. In den Dialog zwischen den beiden schwingt die Auseinandersetzung des lyrischen Ichs mit der eigenen dunklen Seite, liehen mit, wobei „Tiber“ als Metapher für Bosheit und Gewalt steht.
In Bezug auf die Form und Sprache ist das Gedicht in freien Versen verfasst, was die unbeständige, flüchtige Gefühlslage, in der sich das lyrische Ich befindet, widerspiegelt. Zugleich unterstützt die anschauliche, lebendige Sprache Delle Grazies, gekennzeichnet durch zahlreiche Details und drastische Bilde, eine dichte, bedrohliche Atmosphäre, die mit dem oben genannten Eindruck zusammenpasst. Des Weiteren nutzt die Dichterin bestimmte stilistische Mittel, wie Alliterationen und Reime, die den Text rhythmisch und angenehm fließend machen und somit zum Spannungsaufbau beitragen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Marie Eugenie Delle Grazies Gedicht „Ich habe dich erwartet!“ eine intensive Darstellung der psychologischen Konflikte und innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs ist, getrieben von Furcht und Faszination gegenüber der dunklen Seite in sich selbst.
Weitere Informationen
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Ich habe dich erwartet!“ der Autorin Marie Eugenie Delle Grazie. Geboren wurde Delle Grazie im Jahr 1864 in Weißkirchen (Bela Crkva). 1892 ist das Gedicht entstanden. In Leipzig ist der Text erschienen. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten der Autorin lassen eine Zuordnung zur Epoche Realismus zu. Bei Delle Grazie handelt es sich um eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das Gedicht besteht aus 72 Versen mit insgesamt 3 Strophen und umfasst dabei 530 Worte. Die Dichterin Marie Eugenie Delle Grazie ist auch die Autorin für Gedichte wie „Arco naturale“, „Atlantis“ und „Beatrice Cenci“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Ich habe dich erwartet!“ weitere 71 Gedichte vor.
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- Addio a Capri
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Zum Autor Marie Eugenie Delle Grazie sind auf abi-pur.de 71 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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