Hungersnot von Erich Mühsam

Viele Hunderttausende liegen tot,
tief ins geschändete Ackerland
von Eisengeziefer niedergestreckt.
Aus ihren Gebeinen kriecht und droht
und aus den Wüsten von Schutt und Brand –
und nagt am Volksmark und saugt und leckt
des Krieges Schwester, die Hungersnot.
 
Sie nistet über Dächern und Tor,
sie senkt sich über Menschen und Vieh,
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kreist über den Dörfern – ohne Laut.
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Kein Auge kann sie erspähn, kein Ohr;
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doch alle Sinne wittern sie,
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erschaudernd wirft sich jede Haut,
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und jedes Haar strafft sich empor.
 
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Die Blicke irren hohl und starr.
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Ein Kind zerrt bang an der Mutter Schurz.
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Zum Kirchhof fährt ein winziger Sarg.
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Der Ortsschulz und Gemeindepfarr
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beraten bleich. Ihr Atem geht kurz.
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Schon wird’s in der eigenen Küche karg. –
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„Wir haben gesiegt!“ lallt blöd ein Narr.
 
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Das Heer, das tot in der Fremde liegt,
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das schafft der Heimat kein Brot herbei.
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Doch viele zieht es sich nach in den Grund,
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die niemands Feind sind, von niemand bekriegt. –
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Millionen modern, von Jammer frei...
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Irr tönt aus dorrendem, lallendem Mund
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der Narren Ruf: „Wir haben gesiegt!“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25 KB)

Details zum Gedicht „Hungersnot“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
28
Anzahl Wörter
173
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Expressionismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Hungersnot“ wurde von Erich Mühsam verfasst, einem deutsch-jüdischen Antimilitaristen und Anarchisten, der von 1878 bis 1934 lebte. Sein Werk kann in die Zeit der Weimarer Republik und des frühen 20. Jahrhunderts eingegliedert werden.

Auf den ersten Blick macht das Gedicht einen düsteren und trostlosen Eindruck, es ist ein beeindruckendes Zeugnis der Zerstörung und des Leids, das Krieg und Nachkriegszeiten verursachen. Es spricht von Tod, Hungersnot und der vergeblichen Suche nach Sieg.

Das Gedicht beschreibt die Auswirkungen eines Krieges, der zu massenhaftem Todesfall und verheerender Zerstörung geführt hat. Die Überlebenden müssen mit Hungersnot kämpfen. Das lyrische Ich vermittelt eine gewaltige Wirkung des Krieges und seiner Folgen. Es beschreibt den Hungersnot als eine grausame „Schwester des Krieges“, die Menschen und Tiere terrorisiert. Es zeigt eine trostlose Landschaft, in der Menschen ums Überleben kämpfen, Kinder sterben und lokale Führer Ratlosigkeit ausdrücken. Es gibt auch Hinweise auf die Absurdität des Krieges und das sinnlose Festhalten an dem Begriff des „Sieges“, obwohl nichts gewonnen wurde, sondern nur Verlust zu beklagen ist.

Das Gedicht besteht aus vier Strophen mit je sieben Versen. Die Form wirkt streng, was die Unausweichlichkeit der Hungersnot und die Disziplin des Krieges widerspiegelt. Die lyrische Sprache ist eingängig und bildhaft, gleichzeitig ist sie schlicht und direkter. Der Verzicht auf übermäßige Metaphorik macht die Darstellung der Geschehnisse umso drastischer. Erich Mühsam nutzt den Kontrast zwischen der brutalen Realität und den absurden Botschaften von Sieg, um die Nutzlosigkeit des Krieges hervorzuheben. Sein Ton ist eher kritisch und abweisend gegenüber jeglicher Kriegsrhetorik und zeigt stattdessen Mitgefühl für die leidenden Menschen.

Zusammengefasst ist „Hungersnot“ von Erich Mühsam eine mächtige Kritik am Krieg und seinen verheerenden Folgen. Durch seine detailreiche Darstellung der Nachkriegsrealität hinterlässt es beim Leser einen tiefen Eindruck. Mühsam nutzt einfache, aber wirkungsvolle Sprache, um ein Bild der Hoffnungslosigkeit und des Leids zu erschaffen. Dabei kritisiert er auch die Absurdität des Konzepts des „Sieges“ in einem Krieg.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Hungersnot“ ist Erich Mühsam. Mühsam wurde im Jahr 1878 in Berlin geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1920. Erschienen ist der Text in München. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Expressionismus zugeordnet werden. Bei Mühsam handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 173 Wörter. Es baut sich aus 4 Strophen auf und besteht aus 28 Versen. Erich Mühsam ist auch der Autor für Gedichte wie „... Der für die Menschheit starb“, „1919“ und „An die Dichter“. Zum Autor des Gedichtes „Hungersnot“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 57 Gedichte vor.

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