Deutschland. Ein Wintermärchen von Heinrich Heine

Caput I
 
Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.
 
Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.
 
10 
Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
11 
Da ward mir seltsam zumute;
12 
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
13 
Recht angenehm verblute.
 
14 
Ein kleines Harfenmädchen sang.
15 
Sie sang mit wahrem Gefühle
16 
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
17 
Gerühret von ihrem Spiele.
 
18 
Sie sang von Liebe und Liebesgram,
19 
Aufopfrung und Wiederfinden
20 
Dort oben, in jener besseren Welt,
21 
Wo alle Leiden schwinden.
 
22 
Sie sang vom irdischen Jammertal,
23 
Von Freuden, die bald zerronnen,
24 
Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt
25 
Verklärt in ew'gen Wonnen.
 
26 
Sie sang das alte Entsagungslied,
27 
Das Eiapopeia vom Himmel,
28 
Womit man einlullt, wenn es greint,
29 
Das Volk, den großen Lümmel.
 
30 
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
31 
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
32 
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
33 
Und predigten öffentlich Wasser.
 
34 
Ein neues Lied, ein besseres Lied,
35 
O Freunde, will ich euch dichten!
36 
Wir wollen hier auf Erden schon
37 
Das Himmelreich errichten.
 
38 
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
39 
Und wollen nicht mehr darben;
40 
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
41 
Was fleißige Hände erwarben.
 
42 
Es wächst hienieden Brot genug
43 
Für alle Menschenkinder,
44 
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
45 
Und Zuckererbsen nicht minder.
 
46 
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
47 
Sobald die Schoten platzen!
48 
Den Himmel überlassen wir
49 
Den Engeln und den Spatzen.
 
50 
Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,
51 
So wollen wir euch besuchen
52 
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
53 
Die seligsten Torten und Kuchen.
 
54 
Ein neues Lied, ein besseres Lied!
55 
Es klingt wie Flöten und Geigen!
56 
Das Miserere ist vorbei,
57 
Die Sterbeglocken schweigen.
 
58 
Die Jungfer Europa ist verlobt
59 
Mit dem schönen Geniusse
60 
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,
61 
Sie schwelgen im ersten Kusse.
 
62 
Und fehlt der Pfaffensegen dabei,
63 
Die Ehe wird gültig nicht minder -
64 
Es lebe Bräutigam und Braut,
65 
Und ihre zukünftigen Kinder!
 
66 
Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,
67 
Das bessere, das neue!
68 
In meiner Seele gehen auf
69 
Die Sterne der höchsten Weihe -
 
70 
Begeisterte Sterne, sie lodern wild,
71 
Zerfließen in Flammenbächen -
72 
Ich fühle mich wunderbar erstarkt,
73 
Ich könnte Eichen zerbrechen!
 
74 
Seit ich auf deutsche Erde trat,
75 
Durchströmen mich Zaubersäfte -
76 
Der Riese hat wieder die Mutter berührt,
77 
Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.
 
78 
Caput II
 
79 
Während die Kleine von Himmelslust
80 
Getrillert und musizieret,
81 
Ward von den preußischen Douaniers
82 
Mein Koffer visitieret.
 
83 
Beschnüffelten alles, kramten herum
84 
In Hemden, Hosen, Schnupftüchern;
85 
Sie suchten nach Spitzen, nach Bijouterien,
86 
Auch nach verbotenen Büchern.
 
87 
Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht!
88 
Hier werdet ihr nichts entdecken!
89 
Die Konterbande, die mit mir reist,
90 
Die hab ich im Kopfe stecken.
 
91 
Hier hab ich Spitzen, die feiner sind
92 
Als die von Brüssel und Mecheln,
93 
Und pack ich einst meine Spitzen aus,
94 
Sie werden euch sticheln und hecheln.
 
95 
Im Kopfe trage ich Bijouterien,
96 
Der Zukunft Krondiamanten,
97 
Die Tempelkleinodien des neuen Gotts,
98 
Des großen Unbekannten.
 
99 
Und viele Bücher trag ich im Kopf!
100 
Ich darf es euch versichern,
101 
Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest
102 
Von konfiszierlichen Büchern.
 
103 
Glaubt mir, in Satans Bibliothek
104 
Kann es nicht schlimmere geben;
105 
Sie sind gefährlicher noch als die
106 
Von Hoffmann von Fallersleben! -
 
107 
Ein Passagier, der neben mir stand,
108 
Bemerkte mir, ich hätte
109 
Jetzt vor mir den preußischen Zollverein,
110 
Die große Douanenkette.
 
111 
"Der Zollverein" - bemerkte er -
112 
"Wird unser Volkstum begründen,
113 
Er wird das zersplitterte Vaterland
114 
Zu einem Ganzen verbinden.
 
115 
Er gibt die äußere Einheit uns,
116 
Die sogenannt materielle;
117 
Die geistige Einheit gibt uns die Zensur,
118 
Die wahrhaft ideelle -
 
119 
Sie gibt die innere Einheit uns,
120 
Die Einheit im Denken und Sinnen
121 
Ein einiges Deutschland tut uns not,
122 
Einig nach außen und innen."
 
123 
Caput III
 
124 
Zu Aachen, im alten Dome, liegt
125 
Carolus Magnus begraben.
126 
(Man muß ihn nicht verwechseln mit Karl
127 
Mayer, der lebt in Schwaben.)
 
128 
Ich möchte nicht tot und begraben sein
129 
Als Kaiser zu Aachen im Dome;
130 
Weit lieber lebt' ich als kleinster Poet
131 
Zu Stukkert am Neckarstrome.
 
132 
Zu Aachen langweilen sich auf der Straß'
133 
Die Hunde, sie flehn untertänig:
134 
"Gib uns einen Fußtritt, o Fremdling, das wird
135 
Vielleicht uns zerstreuen ein wenig."
 
136 
Ich bin in diesem langweil'gen Nest
137 
Ein Stündchen herumgeschlendert.
138 
Sah wieder preußisches Militär,
139 
Hat sich nicht sehr verändert.
 
140 
Es sind die grauen Mäntel noch
141 
Mit dem hohen, roten Kragen -
142 
(Das Rot bedeutet Franzosenblut,
143 
Sang Körner in früheren Tagen.)
 
144 
Noch immer das hölzern pedantische Volk,
145 
Noch immer ein rechter Winkel
146 
In jeder Bewegung, und im Gesicht
147 
Der eingefrorene Dünkel.
 
148 
Sie stelzen noch immer so steif herum,
149 
So kerzengrade geschniegelt,
150 
Als hätten sie verschluckt den Stock,
151 
Womit man sie einst geprügelt.
 
152 
Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie,
153 
Sie tragen sie jetzt im Innern;
154 
Das trauliche Du wird immer noch
155 
An das alte Er erinnern.
 
156 
Der lange Schnurrbart ist eigentlich nur
157 
Des Zopftums neuere Phase:
158 
Der Zopf, der eh'mals hinten hing,
159 
Der hängt jetzt unter der Nase.
 
160 
Nicht übel gefiel mir das neue Kostüm
161 
Der Reuter, das muß ich loben,
162 
Besonders die Pickelhaube, den Helm
163 
Mit der stählernen Spitze nach oben.
 
164 
Das ist so rittertümlich und mahnt
165 
An der Vorzeit holde Romantik,
166 
An die Burgfrau Johanna von Montfaucon,
167 
An den Freiherrn Fouqué, Uhland, Tieck.
 
168 
Das mahnt an das Mittelalter so schön,
169 
An Edelknechte und Knappen,
170 
Die in dem Herzen getragen die Treu'
171 
Und auf dem Hintern ein Wappen.
 
172 
Das mahnt an Kreuzzug und Turnei,
173 
An Minne und frommes Dienen,
174 
An die ungedruckte Glaubenszeit,
175 
Wo noch keine Zeitung erschienen.
 
176 
Ja, ja, der Helm gefällt mir, er zeugt
177 
Vom allerhöchsten Witze!
178 
Ein königlicher Einfall war's!
179 
Es fehlt nicht die Pointe, die Spitze!
 
180 
Nur fürcht ich, wenn ein Gewitter entsteht,
181 
Zieht leicht so eine Spitze
182 
Herab auf euer romantisches Haupt
183 
Des Himmels modernste Blitze! --
 
184 
Zu Aachen, auf dem Posthausschild,
185 
Sah ich den Vogel wieder,
186 
Der mir so tief verhaßt! Voll Gift
187 
Schaute er auf mich nieder.
 
188 
Du häßlicher Vogel, wirst du einst
189 
Mir in die Hände fallen,
190 
So rupfe ich dir die Federn aus
191 
Und hacke dir ab die Krallen.
 
192 
Du sollst mir dann, in luft'ger Höh',
193 
Auf einer Stange sitzen,
194 
Und ich rufe zum lustigen Schießen herbei
195 
Die rheinischen Vogelschützen.
 
196 
Wer mir den Vogel herunterschießt,
197 
Mit Zepter und Krone belehn ich
198 
Den wackern Mann! Wir blasen Tusch
199 
Und rufen: "Es lebe der König!"
 
200 
Caput IV
 
201 
Zu Köllen kam ich spätabends an,
202 
Da hörte ich rauschen den Rheinfluß,
203 
Da fächelte mich schon deutsche Luft,
204 
Da fühlt ich ihren Einfluß -
 
205 
Auf meinen Appetit. Ich aß
206 
Dort Eierkuchen mit Schinken,
207 
Und da er sehr gesalzen war,
208 
Mußt ich auch Rheinwein trinken.
 
209 
Der Rheinwein glänzt noch immer wie Gold
210 
Im grünen Römerglase,
211 
Und trinkst du etwelche Schoppen zuviel,
212 
So steigt er dir in die Nase.
 
213 
In die Nase steigt ein Prickeln so süß,
214 
Man kann sich vor Wonne nicht lassen!
215 
Es trieb mich hinaus in die dämmernde Nacht,
216 
In die widerhallenden Gassen.
 
217 
Die steinernen Häuser schauten mich an,
218 
Als wollten sie mir berichten
219 
Legenden aus altverschollener Zeit,
220 
Der heil'gen Stadt Köllen Geschichten.
 
221 
Ja, hier hat einst die Klerisei
222 
Ihr frommes Wesen getrieben,
223 
Hier haben die Dunkelmänner geherrscht,
224 
Die Ulrich von Hutten beschrieben.
 
225 
Der Cancan des Mittelalters ward hier
226 
Getanzt von Nonnen und Mönchen;
227 
Hier schrieb Hochstraaten, der Menzel von Köln,
228 
Die gift'gen Denunziatiönchen.
 
229 
Die Flamme des Scheiterhaufens hat hier
230 
Bücher und Menschen verschlungen;
231 
Die Glocken wurden geläutet dabei
232 
Und Kyrie eleison gesungen.
 
233 
Dummheit und Bosheit buhlten hier
234 
Gleich Hunden auf freier Gasse;
235 
Die Enkelbrut erkennt man noch heut
236 
An ihrem Glaubenshasse. -
 
237 
Doch siehe! dort im Mondenschein
238 
Den kolossalen Gesellen!
239 
Er ragt verteufelt schwarz empor,
240 
Das ist der Dom von Köllen.
 
241 
Er sollte des Geistes Bastille sein,
242 
Und die listigen Römlinge dachten:
243 
In diesem Riesenkerker wird
244 
Die deutsche Vernunft verschmachten!
 
245 
Da kam der Luther, und er hat
246 
Sein großes "Halt!" gesprochen -
247 
Seit jenem Tage blieb der Bau
248 
Des Domes unterbrochen.
 
249 
Er ward nicht vollendet - und das ist gut.
250 
Denn eben die Nichtvollendung
251 
Macht ihn zum Denkmal von Deutschlands Kraft
252 
Und protestantischer Sendung.
 
253 
Ihr armen Schelme vom Domverein,
254 
Ihr wollt mit schwachen Händen
255 
Fortsetzen das unterbrochene Werk,
256 
Und die alte Zwingburg vollenden!
 
257 
Oh törichter Wahn! Vergebens wird
258 
Geschüttelt der Klingelbeutel,
259 
Gebettelt bei Ketzern und Juden sogar;
260 
Ist alles fruchtlos und eitel.
 
261 
Vergebens wird der große Franz Liszt
262 
Zum Besten des Doms musizieren,
263 
Und ein talentvoller König wird
264 
Vergebens deklamieren!
 
265 
Er wird nicht vollendet, der Kölner Dom,
266 
Obgleich die Narren in Schwaben
267 
Zu seinem Fortbau ein ganzes Schiff
268 
Voll Steine gesendet haben.
 
269 
Er wird nicht vollendet, trotz allem Geschrei
270 
Der Raben und der Eulen,
271 
Die, altertümlich gesinnt, so gern
272 
In hohen Kirchtürmen weilen.
 
273 
Ja, kommen wird die Zeit sogar,
274 
Wo man, statt ihn zu vollenden,
275 
Die inneren Räume zu einem Stall
276 
Für Pferde wird verwenden.
 
277 
"Und wird der Dom ein Pferdestall,
278 
Was sollen wir dann beginnen
279 
Mit den Heil'gen Drei Kön'gen, die da ruhn
280 
Im Tabernakel da drinnen?"
 
281 
So höre ich fragen. Doch brauchen wir uns
282 
In unserer Zeit zu genieren?
283 
Die Heil'gen Drei Kön'ge aus Morgenland,
284 
Sie können woanders logieren.
 
285 
Folgt meinem Rat und steckt sie hinein
286 
In jene drei Körbe von Eisen,
287 
Die hoch zu Münster hängen am Turm,
288 
Der Sankt Lamberti geheißen.
 
289 
Der Schneiderkönig saß darin
290 
Mit seinen beiden Räten,
291 
Wir aber benutzen die Körbe jetzt
292 
Für andre Majestäten.
 
293 
Zur Rechten soll Herr Balthasar,
294 
Zur Linken Herr Melchior schweben,
295 
In der Mitte Herr Gaspar - Gott weiß, wie einst
296 
Die drei gehaust im Leben!
 
297 
Die Heil'ge Allianz des Morgenlands,
298 
Die jetzt kanonisieret,
299 
Sie hat vielleicht nicht immer schön
300 
Und fromm sich aufgeführet.
 
301 
Der Balthasar und der Melchior,
302 
Das waren vielleicht zwei Gäuche,
303 
Die in der Not eine Konstitution
304 
Versprochen ihrem Reiche,
 
305 
Und später nicht Wort gehalten -
306 
Es hat Herr Gaspar, der König der Mohren,
307 
Vielleicht mit schwarzem Undank sogar
308 
Belohnt sein Volk, die Toren!
 
309 
Caput V
 
310 
Und als ich an die Rheinbrück' kam,
311 
Wohl an die Hafenschanze,
312 
Da sah ich fließen den Vater Rhein
313 
Im stillen Mondenglanze.
 
314 
"Sei mir gegrüßt, mein Vater Rhein,
315 
Wie ist es dir ergangen?
316 
Ich habe oft an dich gedacht
317 
Mit Sehnsucht und Verlangen."
 
318 
So sprach ich, da hört ich im Wasser tief
319 
Gar seltsam grämliche Töne,
320 
Wie Hüsteln eines alten Manus,
321 
Ein Brümmeln und weiches Gestöhne:
 
322 
"Willkommen, mein Junge, das ist mir lieb,
323 
Daß du mich nicht vergessen;
324 
Seit dreizehn Jahren sah ich dich nicht,
325 
Mir ging es schlecht unterdessen.
 
326 
Zu Biberich hab ich Steine verschluckt,
327 
Wahrhaftig, sie schmeckten nicht lecker!
328 
Doch schwerer liegen im Magen mir
329 
Die Verse von Niklas Becker.
 
330 
Er hat mich besungen, als ob ich noch
331 
Die reinste Jungfer wäre,
332 
Die sich von niemand rauben läßt
333 
Das Kränzlein ihrer Ehre.
 
334 
Wenn ich es höre, das dumme Lied,
335 
Dann möcht ich mir zerraufen
336 
Den weißen Bart, ich möchte fürwahr
337 
Mich in mir selbst ersaufen!
 
338 
Daß ich keine reine Jungfer bin,
339 
Die Franzosen wissen es besser,
340 
Sie haben mit meinem Wasser so oft
341 
Vermischt ihr Siegergewässer.
 
342 
Das dumme Lied und der dumme Kerl!
343 
Er hat mich schmählich blamieret,
344 
Gewissermaßen hat er mich auch
345 
Politisch kompromittieret.
 
346 
Denn kehren jetzt die Franzosen zurück,
347 
So muß ich vor ihnen erröten,
348 
Ich, der um ihre Rückkehr so oft
349 
Mit Tränen zum Himmel gebeten.
 
350 
Ich habe sie immer so liebgehabt,
351 
Die lieben kleinen Französchen -
352 
Singen und springen sie noch wie sonst?
353 
Tragen noch weiße Höschen?
 
354 
Ich möchte sie gerne wiedersehn,
355 
Doch fürcht ich die Persiflage,
356 
Von wegen des verwünschten Lieds,
357 
Von wegen der Blamage.
 
358 
Der Alfred de Musset, der Gassenbub',
359 
Der kommt an ihrer Spitze
360 
Vielleicht als Tambour, und trommelt mir vor
361 
All seine schlechten Witze."
 
362 
So klagte der arme Vater Rhein,
363 
Konnt sich nicht zufriedengeben.
364 
Ich sprach zu ihm manch tröstendes Wort,
365 
Um ihm das Herz zu heben:
 
366 
"O fürchte nicht, mein Vater Rhein,
367 
Den spöttelnden Scherz der Franzosen;
368 
Sie sind die alten Franzosen nicht mehr,
369 
Auch tragen sie andere Hosen.
 
370 
Die Hosen sind rot und nicht mehr weiß,
371 
Sie haben auch andere Knöpfe,
372 
Sie singen nicht mehr, sie springen nicht mehr,
373 
Sie senken nachdenklich die Köpfe.
 
374 
Sie philosophieren und sprechen jetzt
375 
Von Kant, von Fischte und Hegel,
376 
Sie rauchen Tabak, sie trinken Bier,
377 
Und manche schieben auch Kegel.
 
378 
Sie werden Philister ganz wie wir,
379 
Und treiben es endlich noch Ärger;
380 
Sie sind keine Voltairianer mehr,
381 
Sie werden Hengstenberger.
 
382 
Der Alfred de Musset, das ist wahr,
383 
Ist noch ein Gassenjunge;
384 
Doch fürchte nichts, wir fesseln ihm
385 
Die schändliche Spötterzunge.
 
386 
Und trommelt er dir einen schlechten Witz,
387 
So pfeifen wir ihm einen schlimmern,
388 
Wir pfeifen ihm vor, was ihm passiert
389 
Bei schönen Frauenzimmern.
 
390 
Gib dich zufrieden, Vater Rhein,
391 
Denk nicht an schlechte Lieder,
392 
Ein besseres Lied vernimmst du bald -
393 
Leb wohl, wir sehen uns wieder."
 
394 
Caput VI
 
395 
Den Paganini begleitete stets
396 
Ein Spiritus familiaris,
397 
Manchmal als Hund, manchmal in Gestalt
398 
Des seligen Georg Harrys.
 
399 
Napoleon sah einen roten Mann
400 
Vor jedem wicht'gen Ereignis.
401 
Sokrates hatte seinen Dämon,
402 
Das war kein Hirnerzeugnis.
 
403 
Ich selbst, wenn ich am Schreibtisch saß
404 
Des Nachts, hab ich gesehen
405 
Zuweilen einen vermummten Gast
406 
Unheimlich hinter mir stehen.
 
407 
Unter dem Mantel hielt er etwas
408 
Verborgen, das seltsam blinkte,
409 
Wenn es zum Vorschein kam, und ein Beil,
410 
Ein Richtbeil, zu sein mir dünkte.
 
411 
Er schien von untersetzter Statur,
412 
Die Augen wie zwei Sterne;
413 
Er störte mich im Schreiben nie,
414 
Blieb ruhig stehn in der Ferne.
 
415 
Seit Jahren hatte ich nicht gesehn
416 
Den sonderbaren Gesellen,
417 
Da fand ich ihn plötzlich wieder hier
418 
In der stillen Mondnacht zu Köllen.
 
419 
Ich schlenderte sinnend die Straßen entlang,
420 
Da sah ich ihn hinter mir gehen,
421 
Als ob er mein Schatten wäre, und stand
422 
Ich still, so blieb er stehen.
 
423 
Blieb stehen, als wartete er auf was,
424 
Und förderte ich die Schritte,
425 
Dann folgte er wieder. So kamen wir
426 
Bis auf des Domplatz' Mitte.
 
427 
Es ward mir unleidlich, ich drehte mich um
428 
Und sprach: "Jetzt steh mir Rede,
429 
Was folgst du mir auf Weg und Steg
430 
Hier in der nächtlichen Ode?
 
431 
Ich treffe dich immer in der Stund',
432 
Wo Weltgefühle sprießen
433 
In meiner Brust und durch das Hirn
434 
Die Geistesblitze schießen.
 
435 
Du siehst mich an so stier und fest -
436 
Steh Rede: Was verhüllst du
437 
Hier unter dem Mantel, das heimlich blinkt?
438 
Wer bist du und was willst du?"
 
439 
Doch jener erwiderte trockenen Tons,
440 
Sogar ein bißchen phlegmatisch:
441 
"Ich bitte dich, exorziere mich nicht,
442 
Und werde nur nicht emphatisch!
 
443 
Ich bin kein Gespenst der Vergangenheit,
444 
Kein grabentstiegener Strohwisch,
445 
Und von Rhetorik bin ich kein Freund,
446 
Bin auch nicht sehr philosophisch.
 
447 
Ich bin von praktischer Natur,
448 
Und immer schweigsam und ruhig.
449 
Doch wisse: was du ersonnen im Geist,
450 
Das führ ich aus, das tu ich.
 
451 
Und gehn auch Jahre drüber hin,
452 
Ich raste nicht, bis ich verwandle
453 
In Wirklichkeit, was du gedacht;
454 
Du denkst, und ich, ich handle.
 
455 
Du bist der Richter, der Büttel bin ich,
456 
Und mit dem Gehorsam des Knechtes
457 
Vollstreck ich das Urteil, das du gefällt,
458 
Und sei es ein ungerechtes.
 
459 
Dem Konsul trug man ein Beil voran
460 
Zu Rom, in alten Tagen.
461 
Auch du hast deinen Liktor, doch wird
462 
Das Beil dir nachgetragen.
 
463 
Ich bin dein Liktor, und ich geh
464 
Beständig mit dem blanken
465 
Richtbeile hinter dir - ich bin
466 
Die Tat von deinem Gedanken."
 
467 
Caput VII
 
468 
Ich ging nach Haus und schlief, als ob
469 
Die Engel gewiegt mich hätten.
470 
Man ruht in deutschen Betten so weich,
471 
Denn das sind Federbetten.
 
472 
Wie sehnt ich mich oft nach der Süßigkeit
473 
Des vaterländischen Pfühles,
474 
Wenn ich auf harten Matratzen lag,
475 
In der schlaflosen Nacht des Exiles!
 
476 
Man schläft sehr gut und träumt auch gut
477 
In unseren Federbetten.
478 
Hier fühlt die deutsche Seele sich frei
479 
Von allen Erdenketten.
 
480 
Sie fühlt sich frei und schwingt sich empor
481 
Zu den höchsten Himmelsräumen.
482 
O deutsche Seele, wie stolz ist dein Flug
483 
In deinen nächtlichen Träumen!
 
484 
Die Götter erbleichen, wenn du nahst!
485 
Du hast auf deinen Wegen
486 
Gar manches Sternlein ausgeputzt
487 
Mit deinen Flügelschlägen!
 
488 
Franzosen und Russen gehört das Land,
489 
Das Meer gehört den Briten,
490 
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
491 
Die Herrschaft unbestritten.
 
492 
Hier üben wir die Hegemonie,
493 
Hier sind wir unzerstückelt;
494 
Die andern Völker haben sich
495 
Auf platter Erde entwickelt. --
 
496 
Und als ich einschlief, da träumte mir,
497 
Ich schlenderte wieder im hellen
498 
Mondschein die hallenden Straßen entlang,
499 
In dem altertümlichen Köllen.
 
500 
Und hinter mir ging wieder einher
501 
Mein schwarzer, vermummter Begleiter.
502 
Ich war so müde, mir brachen die Knie,
503 
Doch immer gingen wir weiter.
 
504 
Wir gingen weiter. Mein Herz in der Brust
505 
War klaffend aufgeschnitten,
506 
Und aus der Herzenswunde hervor
507 
Die roten Tropfen glitten.
 
508 
Ich tauchte manchmal die Finger hinein,
509 
Und manchmal ist es geschehen,
510 
Daß ich die Haustürpfosten bestrich
511 
Mit dem Blut im Vorübergehen.
 
512 
Und jedesmal, wenn ich ein Haus
513 
Bezeichnet in solcher Weise,
514 
Ein Sterbeglöckchen erscholl fernher,
515 
Wehmütig wimmernd und leise.
 
516 
Am Himmel aber erblich der Mond,
517 
Er wurde immer trüber;
518 
Gleich schwarzen Rossen jagten an ihm
519 
Die wilden Wolken vorüber.
 
520 
Und immer ging hinter mir einher
521 
Mit seinem verborgenen Beile
522 
Die dunkle Gestalt - so wanderten wir
523 
Wohl eine gute Weile.
 
524 
Wir gehen und gehen, bis wir zuletzt
525 
Wieder zum Domplatz gelangen;
526 
Weit offen standen die Pforten dort,
527 
Wir sind hineingegangen.
 
528 
Es herrschte im ungeheuren Raum
529 
Nur Tod und Nacht und Schweigen;
530 
Es brannten Ampeln hie und da,
531 
Um die Dunkelheit recht zu zeigen.
 
532 
Ich wandelte lange den Pfeilern entlang
533 
Und hörte nur die Tritte
534 
Von meinem Begleiter, er folgte mir
535 
Auch hier bei jedem Schritte.
 
536 
Wir kamen endlich zu einem Ort,
537 
Wo funkelnde Kerzenhelle
538 
Und blitzendes Gold und Edelstein;
539 
Das war die Drei-Königs-Kapelle.
 
540 
Die Heil'gen Drei Könige jedoch,
541 
Die sonst so still dort lagen,
542 
O Wunder! sie saßen aufrecht jetzt
543 
Auf ihren Sarkophagen.
 
544 
Drei Totengerippe, phantastisch geputzt,
545 
Mit Kronen auf den elenden
546 
Vergilbten Schädeln, sie trugen auch
547 
Das Zepter in knöchernen Händen.
 
548 
Wie Hampelmänner bewegten sie
549 
Die längstverstorbenen Knochen;
550 
Die haben nach Moder und zugleich
551 
Nach Weihrauchduft gerochen.
 
552 
Der eine bewegte sogar den Mund
553 
Und hielt eine Rede, sehr lange;
554 
Er setzte mir auseinander, warum
555 
Er meinen Respekt verlange.
 
556 
Zuerst weil er ein Toter sei,
557 
Und zweitens weil er ein König,
558 
Und drittens weil er ein Heil'ger sei -
559 
Das alles rührte mich wenig.
 
560 
Ich gab ihm zur Antwort lachenden Muts:
561 
"Vergebens ist deine Bemühung!
562 
Ich sehe, daß du der Vergangenheit
563 
Gehörst in jeder Beziehung.
 
564 
Fort! fort von hier! im tiefen Grab
565 
Ist eure natürliche Stelle.
566 
Das Leben nimmt jetzt in Beschlag
567 
Die Schätze dieser Kapelle.
 
568 
Der Zukunft fröhliche Kavallerie
569 
Soll hier im Dome hausen,
570 
Und weicht ihr nicht willig, so brauch ich Gewalt
571 
Und laß euch mit Kolben lausen!"
 
572 
So sprach ich, und ich drehte mich um,
573 
Da sah ich furchtbar blinken
574 
Des stummen Begleiters furchtbares Beil -
575 
Und er verstand mein Winken.
 
576 
Er nahte sich, und mit dem Beil
577 
Zerschmetterte er die armen
578 
Skelette des Aberglaubens, er schlug
579 
Sie nieder ohn' Erbarmen.
 
580 
Es dröhnte der Hiebe Widerhall
581 
Aus allen Gewölben, entsetzlich! -
582 
Blutströme schossen aus meiner Brust,
583 
Und ich erwachte plötzlich.
 
584 
Caput VIII
 
585 
Von Köllen bis Hagen kostet die Post
586 
Fünf Taler sechs Groschen preußisch.
587 
Die Diligence war leider besetzt,
588 
Und ich kam in die offene Beichais'.
 
589 
Ein Spätherbstmorgen, feucht und grau,
590 
Im Schlamme keuchte der Wagen;
591 
Doch trotz des schlechten Wetters und Wegs
592 
Durchströmte mich süßes Behagen.
 
593 
Das ist ja meine Heimatluft!
594 
Die glühende Wange empfand es!
595 
Und dieser Landstraßenkot, er ist
596 
Der Dreck meines Vaterlandes!
 
597 
Die Pferde wedelten mit dem Schwanz
598 
So traulich wie alte Bekannte,
599 
Und ihre Mistküchlein dünkten mir schön
600 
Wie die Äpfel der Atalante!
 
601 
Wir fuhren durch Mühlheim. Die Stadt ist nett
602 
Die Menschen still und fleißig.
603 
War dort zuletzt im Monat Mai
604 
Des Jahres einunddreißig.
 
605 
Damals stand alles im Blütenschmuck
606 
Und die Sonnenlichter lachten,
607 
Die Vögel sangen sehnsuchtvoll,
608 
Und die Menschen hofften und dachten -
 
609 
Sie dachten: 'Die magere Ritterschaft
610 
Wird bald von hinnen reisen,
611 
Und der Abschiedstrunk wird ihnen kredenzt
612 
Aus langen Flaschen von Eisen!
 
613 
Und die Freiheit kommt mit Spiel und Tanz,
614 
Mit der Fahne, der weißblauroten;
615 
Vielleicht holt sie sogar aus dem Grab
616 
Den Bonaparte, den Toten!'
 
617 
Ach Gott! die Ritter sind immer noch hier,
618 
Und manche dieser Gäuche,
619 
Die spindeldürre gekommen ins Land,
620 
Die haben jetzt dicke Bäuche.
 
621 
Die blassen Kanaillen, die ausgesehn
622 
Wie Liebe, Glauben und Hoffen,
623 
Sie haben seitdem in unserm Wein
624 
Sich rote Nasen gesoffen --
 
625 
Und die Freiheit hat sich den Fuß verrenkt,
626 
Kann nicht mehr springen und stürmen;
627 
Die Trikolore in Paris
628 
Schaut traurig herab von den Türmen.
 
629 
Der Kaiser ist auferstanden seitdem,
630 
Doch die englischen Würmer haben
631 
Aus ihm einen stillen Mann gemacht,
632 
Und er ließ sich wieder begraben.
 
633 
Hab selber sein Leichenbegängnis gesehn,
634 
Ich sah den goldenen Wagen
635 
Und die goldenen Siegesgöttinnen drauf,
636 
Die den goldenen Sarg getragen.
 
637 
Den Elysäischen Feldern entlang,
638 
Durch des Triumphes Bogen,
639 
Wohl durch den Nebel, wohl über den Schnee
640 
Kam langsam der Zug gezogen.
 
641 
Mißtönend schauerlich war die Musik.
642 
Die Musikanten starrten
643 
Vor Kälte. Wehmütig grüßten mich
644 
Die Adler der Standarten.
 
645 
Die Menschen schauten so geisterhaft
646 
In alter Erinnrung verloren -
647 
Der imperiale Märchentraum
648 
War wieder heraufbeschworen.
 
649 
Ich weinte an jenem Tag. Mir sind
650 
Die Tränen ins Auge gekommen,
651 
Als ich den verschollenen Liebesruf,
652 
Das "Vive l'Empereur!", vernommen
 
653 
Caput IX
 
654 
Von Köllen war ich drei Viertel auf acht
655 
Des Morgens fortgereiset;
656 
Wir kamen nach Hagen schon gegen drei,
657 
Da wird zu Mittag gespeiset.
 
658 
Der Tisch war gedeckt. Hier fand ich ganz
659 
Die altgermanische Küche.
660 
Sei mir gegrüßt, mein Sauerkraut,
661 
Holdselig sind deine Gerüche!
 
662 
Gestovte Kastanien im grünen Kohl!
663 
So aß ich sie einst bei der Mutter!
664 
Ihr heimischen Stockfische, seid mir gegrüßt!
665 
Wie schwimmt ihr klug in der Butter!
 
666 
Jedwedem fühlenden Herzen bleibt
667 
Das Vaterland ewig teuer -
668 
Ich liebe auch recht braun geschmort
669 
Die Bücklinge und Eier.
 
670 
Wie jauchzten die Würste im spritzelnden Fett!
671 
Die Krammetsvögel, die frommen
672 
Gebratenen Englein mit Apfelmus,
673 
Sie zwitscherten mir: "Willkommen!"
 
674 
"Willkommen, Landsmann" - zwitscherten sie
675 
"Bist lange ausgeblieben,
676 
Hast dich mit fremdem Gevögel so lang
677 
In der Fremde herumgetrieben!"
 
678 
Es stand auf dem Tische eine Gans,
679 
Ein stilles, gemütliches Wesen.
680 
Sie hat vielleicht mich einst geliebt,
681 
Als wir beide noch jung gewesen.
 
682 
Sie blickte mich an so bedeutungsvoll,
683 
So innig, so treu, so wehe!
684 
Besaß eine schöne Seele gewiß,
685 
Doch war das Fleisch sehr zähe.
 
686 
Auch einen Schweinskopf trug man auf
687 
In einer zinnernen Schüssel;
688 
Noch immer schmückt man den Schweinen bei uns
689 
Mit Lorbeerblättern den Rüssel
 
690 
Caput X
 
691 
Dicht hinter Hagen ward es Nacht,
692 
Und ich fühlte in den Gedärmen
693 
Ein seltsames Frösteln. Ich konnte mich erst
694 
Zu Unna, im Wirtshaus, erwärmen.
 
695 
Ein hübsches Mädchen fand ich dort,
696 
Die schenkte mir freundlich den Punsch ein;
697 
Wie gelbe Seide das Lockenhaar,
698 
Die Augen sanft wie Mondschein.
 
699 
Den lispelnd westfälischen Akzent
700 
Vernahm ich mit Wollust wieder.
701 
Viel süße Erinnerung dampfte der Punsch,
702 
Ich dachte der lieben Brüder,
 
703 
Der lieben Westfalen, womit ich so oft
704 
In Göttingen getrunken,
705 
Bis wir gerührt einander ans Herz
706 
Und unter die Tische gesunken!
 
707 
Ich habe sie immer so liebgehabt,
708 
Die lieben, guten Westfalen,
709 
Ein Volk, so fest, so sicher, so treu,
710 
Ganz ohne Gleißen und Prahlen.
 
711 
Wie standen sie prächtig auf der Mensur
712 
Mit ihren Löwenherzen!
713 
Es fielen so grade, so ehrlich gemeint,
714 
Die Quarten und die Terzen.
 
715 
Sie fechten gut, sie trinken gut,
716 
Und wenn sie die Hand dir reichen
717 
Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie;
718 
Sind sentimentale Eichen.
 
719 
Der Himmel erhalte dich, wackres Volk,
720 
Er segne deine Saaten,
721 
Bewahre dich vor Krieg und Ruhm,
722 
Vor Helden und Heldentaten.
 
723 
Er schenke deinen Söhnen Stets
724 
Ein sehr gelindes Examen,
725 
Und deine Töchter bringe er hübsch
726 
Unter die Haube - Amen!
 
727 
Caput XI
 
728 
Das ist der Teutoburger Wald,
729 
Den Tacitus beschrieben,
730 
Das ist der klassische Morast,
731 
Wo Varus steckengeblieben.
 
732 
Hier schlug ihn der Cheruskerfürst,
733 
Der Hermann, der edle Recke;
734 
Die deutsche Nationalität,
735 
Die siegte in diesem Drecke.
 
736 
Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann,
737 
Mit seinen blonden Horden,
738 
So gäb es deutsche Freiheit nicht mehr,
739 
Wir wären römisch geworden!
 
740 
In unserem Vaterland herrschten jetzt
741 
Nur römische Sprache und Sitten,
742 
Vestalen gäb es in München sogar,
743 
Die Schwaben hießen Quiriten!
 
744 
Der Hengstenberg wär ein Haruspex
745 
Und grübelte in den Gedärmen
746 
Von Ochsen. Neander wär ein Augur
747 
Und schaute nach Vögelschwärmen.
 
748 
Birch-Pfeiffer söffe Terpentin,
749 
Wie einst die römischen Damen.
750 
(Man sagt, daß sie dadurch den Urin
751 
Besonders wohlriechend bekamen.)
 
752 
Der Raumer wäre kein deutscher Lump,
753 
Er wäre ein röm'scher Lumpacius.
754 
Der Freiligrath dichtete ohne Reim,
755 
Wie weiland Flaccus Horatius.
 
756 
Der grobe Bettler, Vater Jahn,
757 
Der hieße jetzt Grobianus.
758 
Me hercule! Maßmann spräche Latein,
759 
Der Marcus Tullius Maßmanus!
 
760 
Die Wahrheitsfreunde würden jetzt
761 
Mit Löwen, Hyänen, Schakalen
762 
Sich raufen in der Arena, anstatt
763 
Mit Hunden in kleinen Journalen.
 
764 
Wir hätten einen Nero jetzt,
765 
Statt Landesväter drei Dutzend.
766 
Wir schnitten uns die Adern auf,
767 
Den Schergen der Knechtschaft trutzend.
 
768 
Der Schelling wär ganz ein Seneca,
769 
Und käme in solchem Konflikt um.
770 
Zu unsrem Cornelius sagten wir:
771 
"Cacatum non est pictum."
 
772 
Gottlob! Der Hermann gewann die Schlacht,
773 
Die Römer wurden vertrieben,
774 
Varus mit seinen Legionen erlag,
775 
Und wir sind Deutsche geblieben!
 
776 
Wir blieben deutsch, wir sprechen deutsch,
777 
Wie wir es gesprochen haben;
778 
Der Esel heißt Esel, nicht asinus,
779 
Die Schwaben blieben Schwaben.
 
780 
Der Raumer blieb ein deutscher Lump
781 
In unserm deutschen Norden.
782 
In Reimen dichtet Freiligrath,
783 
Ist kein Horaz geworden.
 
784 
Gottlob, der Maßmann spricht kein Latein,
785 
Birch-Pfeiffer schreibt nur Dramen,
786 
Und säuft nicht schnöden Terpentin
787 
Wie Roms galante Damen.
 
788 
O Hermann, dir verdanken wir das!
789 
Drum wird dir, wie sich gebühret,
790 
Zu Detmold ein Monument gesetzt;
791 
Hab selber subskribieret.
 
792 
Caput XII
 
793 
Im nächtlichen Walde humpelt dahin
794 
Die Chaise. Da kracht es plötzlich -
795 
Ein Rad ging los. Wir halten still.
796 
Das ist nicht sehr ergötzlich.
 
797 
Der Postillion steigt ab und eilt
798 
Ins Dorf, und ich verweile
799 
Um Mitternacht allein im Wald.
800 
Ringsum ertönt ein Geheule.
 
801 
Das sind die Wölfe, die heulen so wild,
802 
Mit ausgehungerten Stimmen.
803 
Wie Lichter in der Dunkelheit
804 
Die feurigen Augen glimmen.
 
805 
Sie hörten von meiner Ankunft gewiß,
806 
Die Bestien, und mir zur Ehre
807 
Illuminierten sie den Wald
808 
Und singen sie ihre Chöre.
 
809 
Das ist ein Ständchen, ich merke es jetzt,
810 
Ich soll gefeiert werden!
811 
Ich warf mich gleich in Positur
812 
Und sprach mit gerührten Gebärden:
 
813 
"Mitwölfe! Ich bin glücklich, heut
814 
In eurer Mitte zu weilen,
815 
Wo soviel edle Gemüter mir
816 
Mit Liebe entgegenheulen.
 
817 
Was ich in diesem Augenblick
818 
Empfinde, ist unermeßlich;
819 
Ach, diese schöne Stunde bleibt
820 
Mir ewig unvergeßlich.
 
821 
Ich danke euch für das Vertraun,
822 
Womit ihr mich beehret
823 
Und das ihr in jeder Prüfungszeit
824 
Durch treue Beweise bewähret.
 
825 
Mitwölfe! Ihr zweifeltet nie an mir,
826 
Ihr ließet euch nicht fangen
827 
Von Schelmen, die euch gesagt, ich sei
828 
Zu den Hunden übergegangen,
 
829 
Ich sei abtrünnig und werde bald
830 
Hofrat in der Lämmerhürde -
831 
Dergleichen zu widersprechen war
832 
Ganz unter meiner Würde.
 
833 
Der Schafpelz, den ich umgehängt
834 
Zuweilen, um mich zu wärmen,
835 
Glaubt mir's, er brachte mich nie dahin,
836 
Für das Glück der Schafe zu schwärmen.
 
837 
Ich bin kein Schaf, ich bin kein Hund,
838 
Kein Hofrat und kein Schellfisch -
839 
Ich bin ein Wolf geblieben, mein Herz
840 
Und meine Zähne sind wölfisch.
 
841 
Ich bin ein Wolf und werde stets
842 
Auch heulen mit den Wölfen -
843 
Ja, zählt auf mich und helft euch selbst,
844 
Dann wird auch Gott euch helfen!"
 
845 
Das war die Rede, die ich hielt,
846 
Ganz ohne Vorbereitung;
847 
Verstümmelt hat Kolb sie abgedruckt
848 
In der "Allgemeinen Zeitung".
 
849 
Caput XIII
 
850 
Die Sonne ging auf bei Paderborn,
851 
Mit sehr verdroßner Gebärde.
852 
Sie treibt in der Tat ein verdrießlich Geschäft -
853 
Beleuchten die dumme Erde!
 
854 
Hat sie die eine Seite erhellt,
855 
Und bringt sie mit strahlender Eile
856 
Der andern ihr Licht, so verdunkelt schon
857 
Sich jene mittlerweile.
 
858 
Der Stein entrollt dem Sisyphus,
859 
Der Danaiden Tonne
860 
Wird nie gefüllt, und den Erdenball
861 
Beleuchtet vergeblich die Sonne! -
 
862 
Und als der Morgennebel zerrann,
863 
Da sah ich am Wege ragen,
864 
Im Frührotschein, das Bild des Manns,
865 
Der an das Kreuz geschlagen.
 
866 
Mit Wehmut erfüllt mich jedesmal
867 
Dein Anblick, mein armer Vetter,
868 
Der du die Welt erlösen gewollt,
869 
Du Narr, du Menschheitsretter!
 
870 
Sie haben dir übel mitgespielt!
871 
Die Herren vom hohen Rate.
872 
Wer hieß dich auch reden so rücksichtslos
873 
Von der Kirche und vom Staate!
 
874 
Zu deinem Malheur war die Buchdruckerei
875 
Noch nicht in jenen Tagen
876 
Erfunden; du hättest geschrieben ein Buch
877 
Über die Himmelsfragen.
 
878 
Der Zensor hätte gestrichen darin,
879 
Was etwa anzüglich auf Erden,
880 
Und liebend bewahrte dich die Zensur
881 
Vor dem Gekreuzigtwerden.
 
882 
Ach! hättest du nur einen andern Text
883 
Zu deiner Bergpredigt genommen,
884 
Besaßest ja Geist und Talent genug,
885 
Und konntest schonen die Frommen!
 
886 
Geldwechsler, Bankiers, hast du sogar
887 
Mit der Peitsche gejagt aus dem Tempel -
888 
Unglücklicher Schwärmer, jetzt hängst du am Kreuz
889 
Als warnendes Exempel!
 
890 
Caput XIV
 
891 
Ein feuchter Wind, ein kahles Land,
892 
Die Chaise wackelt im Schlamme;
893 
Doch singt es und klingt es in meinem Gemüt:
894 
"Sonne, du klagende Flamme!"
 
895 
Das ist der Schlußreim des alten Lieds,
896 
Das oft meine Amme gesungen -
897 
"Sonne, du klagende Flamme!" Das hat
898 
Wie Waldhornruf geklungen.
 
899 
Es kommt im Lied ein Mörder vor,
900 
Der lebt' in Lust und Freude;
901 
Man findet ihn endlich im Walde gehenkt
902 
An einer grauen Weide.
 
903 
Der Mörders Todesurteil war
904 
Genagelt am Weidenstamme;
905 
Das haben die Rächer der Feme getan -
906 
"Sonne, du klagende Flamme!"
 
907 
Die Sonne war Kläger, sie hatte bewirkt,
908 
Daß man den Mörder verdamme.
909 
Ottilie hatte sterbend geschrien:
910 
"Sonne, du klagende Flamme!"
 
911 
Und denk ich des Liedes, so denk ich auch
912 
Der Amme, der lieben Alten;
913 
Ich sehe wieder ihr braunes Gesicht,
914 
Mit allen Runzeln und Falten.
 
915 
Sie war geboren im Münsterland,
916 
Und wußte, in großer Menge,
917 
Gespenstergeschichten, grausenhaft,
918 
Und Märchen und Volksgesänge.
 
919 
Wie pochte mein Herz, wenn die alte Frau
920 
Von der Königstochter erzählte,
921 
Die einsam auf der Heide saß
922 
Und die goldnen Haare strählte.
 
923 
Die Gänse mußte sie hüten dort
924 
Als Gänsemagd, und trieb sie
925 
Am Abend die Gänse wieder durchs Tor,
926 
Gar traurig stehen blieb sie.
 
927 
Denn angenagelt über dem Tor
928 
Sah sie ein Roßhaupt ragen,
929 
Das war der Kopf des armen Pferds,
930 
Das sie in die Fremde getragen.
 
931 
Die Königstochter seufzte tief.
932 
"O Falada, daß du hangest!"
933 
Der Pferdekopf herunterrief:
934 
"O wehe! daß du gangest!"
 
935 
Die Königstochter seufzte tief:
936 
"Wenn das meine Mutter wüßte!"
937 
Der Pferdekopf herunterrief:
938 
"Ihr Herze brechen müßte!"
 
939 
Mit stockendem Atem horchte ich hin,
940 
Wenn die Alte ernster und leiser
941 
Zu sprechen begann und vom Rotbart sprach,
942 
Von unserem heimlichen Kaiser.
 
943 
Sie hat mir versichert, er sei nicht tot,
944 
Wie da glauben die Gelehrten,
945 
Er hause versteckt in einem Berg
946 
Mit seinen Waffengefährten.
 
947 
Kyffhäuser ist der Berg genannt,
948 
Und drinnen ist eine Höhle;
949 
Die Ampeln erhellen so geisterhaft
950 
Die hochgewölbten Säle.
 
951 
Ein Marstall ist der erste Saal,
952 
Und dorten kann man sehen
953 
Viel tausend Pferde, blankgeschirrt,
954 
Die an den Krippen stehen.
 
955 
Sie sind gesattelt und gezäumt,
956 
Jedoch von diesen Rossen
957 
Kein einziges wiehert, kein einziges stampft,
958 
Sind still, wie aus Eisen gegossen.
 
959 
Im zweiten Saale, auf der Streu,
960 
Sieht man Soldaten liegen,
961 
Viel tausend Soldaten, bärtiges Volk,
962 
Mit kriegerisch trotzigen Zügen.
 
963 
Sie sind gerüstet von Kopf bis Fuß,
964 
Doch alle diese Braven,
965 
Sie rühren sich nicht, bewegen sich nicht,
966 
Sie liegen fest und schlafen.
 
967 
Hochaufgestapelt im dritten Saal
968 
Sind Schwerter, Streitäxte, Speere,
969 
Harnische, Helme, von Silber und Stahl,
970 
Altfränkische Feuergewehre.
 
971 
Sehr wenig Kanonen, jedoch genug,
972 
Um eine Trophäe zu bilden.
973 
Hoch ragt daraus eine Fahne hervor,
974 
Die Farbe ist schwarzrotgülden.
 
975 
Der Kaiser bewohnt den vierten Saal.
976 
Schon seit Jahrhunderten sitzt er
977 
Auf steinernem Stuhl, am steinernen Tisch,
978 
Das Haupt auf den Armen stützt er.
 
979 
Sein Bart, der bis zur Erde wuchs,
980 
Ist rot wie Feuerflammen,
981 
Zuweilen zwinkert er mit dem Aug',
982 
Zieht manchmal die Braunen zusammen.
 
983 
Schläft er oder denkt er nach?
984 
Man kann's nicht genau ermitteln;
985 
Doch wenn die rechte Stunde kommt,
986 
Wird er gewaltig sich rütteln.
 
987 
Die gute Fahne ergreift er dann
988 
Und ruft: "Zu Pferd! zu Pferde!"
989 
Sein reisiges Volk erwacht und springt
990 
Lautrasselnd empor von der Erde.
 
991 
Ein jeder schwingt sich auf sein Roß,
992 
Das wiehert und stampft mit den Hufen!
993 
Sie reiten hinaus in die klirrende Welt,
994 
Und die Trompeten rufen.
 
995 
Sie reiten gut, sie schlagen gut,
996 
Sie haben ausgeschlafen.
997 
Der Kaiser hält ein strenges Gericht,
998 
Er will die Mörder bestrafen -
 
999 
Die Mörder, die gemeuchelt einst
1000 
Die teure, wundersame,
1001 
Goldlockichte Jungfrau Germania -
1002 
"Sonne, du klagende Flamme!"
 
1003 
Wohl mancher, der sich geborgen geglaubt,
1004 
Und lachend auf seinem Schloß saß,
1005 
Er wird nicht entgehen dem rächenden Strang,
1006 
Dem Zorne Barbarossas! ---
 
1007 
Wie klingen sie lieblich, wie klingen sie süß,
1008 
Die Märchen der alten Amme!
1009 
Mein abergläubisches Herze jauchzt:
1010 
"Sonne, du klagende Flamme!"
 
1011 
Caput XV
 
1012 
Ein feiner Regen prickelt herab,
1013 
Eiskalt, wie Nähnadelspitzen.
1014 
Die Pferde bewegen traurig den Schwanz,
1015 
Sie waten im Kot und schwitzen.
 
1016 
Der Postillion stößt in sein Horn,
1017 
Ich kenne das alte Getute -
1018 
"Es reiten drei Reiter zum Tor hinaus!"
1019 
Es wird mir so dämmrig zumute.
 
1020 
Mich schläferte und ich entschlief,
1021 
Und siehe! mir träumte am Ende,
1022 
Daß ich mich in dem Wunderberg
1023 
Beim Kaiser Rotbart befände.
 
1024 
Er saß nicht mehr auf steinernem Stuhl,
1025 
Am steinernen Tisch, wie ein Steinbild;
1026 
Auch sah er nicht so ehrwürdig aus,
1027 
Wie man sich gewöhnlich einbild't.
 
1028 
Er watschelte durch die Säle herum
1029 
Mit mir im trauten Geschwätze.
1030 
Er zeigte wie ein Antiquar
1031 
Mir seine Kuriosa und Schätze.
 
1032 
Im Saale der Waffen erklärte er mir,
1033 
Wie man sich der Kolben bediene,
1034 
Von einigen Schwertern rieb er den Rost
1035 
Mit seinem Hermeline.
 
1036 
Er nahm ein Pfauenwedel zur Hand,
1037 
Und reinigte vom Staube
1038 
Gar manchen Harnisch, gar manchen Helm,
1039 
Auch manche Pickelhaube.
 
1040 
Die Fahne stäubte er gleichfalls ab,
1041 
Und er sprach: "Mein größter Stolz ist,
1042 
Daß noch keine Motte die Seide zerfraß,
1043 
Und auch kein Wurm im Holz ist."
 
1044 
Und als wir kamen in den Saal,
1045 
Wo schlafend am Boden liegen
1046 
Viel tausend Krieger, kampfbereit,
1047 
Der Alte sprach mit Vergnügen:
 
1048 
"Hier müssen wir leiser reden und gehn,
1049 
Damit wir nicht wecken die Leute;
1050 
Wieder verflossen sind hundert Jahr',
1051 
Und Löhnungstag ist heute."
 
1052 
Und siehe! der Kaiser nahte sich sacht
1053 
Den schlafenden Soldaten,
1054 
Und steckte heimlich in die Tasch'
1055 
Jedwedem einen Dukaten.
 
1056 
Er sprach mit schmunzelndem Gesicht,
1057 
Als ich ihn ansah verwundert:
1058 
"Ich zahle einen Dukaten per Mann,
1059 
Als Sold, nach jedem Jahrhundert."
 
1060 
Im Saale, wo die Pferde stehn
1061 
In langen, schweigenden Reihen,
1062 
Da rieb der Kaiser sich die Händ',
1063 
Schien sonderbar sich zu freuen.
 
1064 
Er zählte die Gäule, Stück vor Stück,
1065 
Und klätschelte ihnen die Rippen;
1066 
Er zählte und zählte, mit ängstlicher Hast
1067 
Bewegten sich seine Lippen.
 
1068 
"Das ist noch nicht die rechte Zahl" -
1069 
Sprach er zuletzt verdrossen -,
1070 
"Soldaten und Waffen hab ich genung,
1071 
Doch fehlt es noch an Rossen.
 
1072 
Roßkämme hab ich ausgeschickt
1073 
In alle Welt, die kaufen
1074 
Für mich die besten Pferde ein,
1075 
Hab schon einen guten Haufen.
 
1076 
Ich warte, bis die Zahl komplett,
1077 
Dann schlag ich los und befreie
1078 
Mein Vaterland, mein deutsches Volk,
1079 
Das meiner harret mit Treue."
 
1080 
So sprach der Kaiser, ich aber rief:
1081 
"Schlag los, du alter Geselle,
1082 
Schlag los, und hast du nicht Pferde genug,
1083 
Nimm Esel an ihrer Stelle."
 
1084 
Der Rotbart erwiderte lächelnd: "Es hat
1085 
Mit dem Schlagen gar keine Eile,
1086 
Man baute nicht Rom in einem Tag,
1087 
Gut Ding will haben Weile.
 
1088 
Wer heute nicht kommt, kommt morgen gewiß,
1089 
Nur langsam wächst die Eiche,
1090 
Und chi va piano, va sano, so heißt
1091 
Das Sprüchwort im römischen Reiche."
 
1092 
Caput XVI
 
1093 
Das Stoßen des Wagens weckte mich auf,
1094 
Doch sanken die Augenlider
1095 
Bald wieder zu, und ich entschlief
1096 
Und träumte vom Rotbart wieder.
 
1097 
Ging wieder schwatzend mit ihm herum
1098 
Durch alle die hallenden Säle;
1099 
Er frug mich dies, er frug mich das,
1100 
Verlangte, daß ich erzähle.
 
1101 
Er hatte aus der Oberwelt
1102 
Seit vielen, vielen Jahren,
1103 
Wohl seit dem Siebenjährigen Krieg,
1104 
Kein Sterbenswort erfahren.
 
1105 
Er frug nach Moses Mendelssohn,
1106 
Nach der Karschin, mit Intresse
1107 
Frug er nach der Gräfin Dubarry,
1108 
Des fünfzehnten Ludwigs Mätresse.
 
1109 
"O Kaiser", rief ich, "wie bist du zurück!
1110 
Der Moses ist längst gestorben,
1111 
Nebst seiner Rebekka, auch Abraham,
1112 
Der Sohn, ist gestorben, verdorben.
 
1113 
Der Abraham hatte mit Lea erzeugt
1114 
Ein Bübchen, Felix heißt er,
1115 
Der brachte es weit im Christentum,
1116 
Ist schon Kapellenmeister.
 
1117 
Die alte Karschin ist gleichfalls tot,
1118 
Auch die Tochter ist tot, die Klenke;
1119 
Helmine Chézy, die Enkelin,
1120 
Ist noch am Leben, ich denke.
 
1121 
Die Dubarry lebte lustig und flott,
1122 
Solange Ludwig regierte,
1123 
Der Fünfzehnte nämlich, sie war schon alt,
1124 
Als man sie guillotinierte.
 
1125 
Der König Ludwig der Fünfzehnte starb
1126 
Ganz ruhig in seinem Bette,
1127 
Der Sechzehnte aber ward guillotiniert
1128 
Mit der Königin Antoinette.
 
1129 
Die Königin zeigte großen Mut,
1130 
Ganz wie es sich gebührte,
1131 
Die Dubarry aber weinte und schrie,
1132 
Als man sie guillotinierte."-
 
1133 
Der Kaiser blieb plötzlich stillestehn,
1134 
Und sah mich an mit den stieren
1135 
Augen und sprach: "Um Gottes will'n,
1136 
Was ist das, guillotinieren?"
 
1137 
"Das Guillotinieren" - erklärte ich ihm -
1138 
"Ist eine neue Methode,
1139 
Womit man die Leute jeglichen Stands
1140 
Vom Leben bringt zu Tode.
 
1141 
Bei dieser Methode bedient man sich
1142 
Auch einer neuen Maschine,
1143 
Die hat erfunden Herr Guillotin,
1144 
Drum nennt man sie Guillotine.
 
1145 
Du wirst hier an ein Brett geschnallt;
1146 
Das senkt sich; - du wirst geschoben
1147 
Geschwinde zwischen zwei Pfosten; - es hängt
1148 
Ein dreieckig Beil ganz oben; -
 
1149 
Man zieht eine Schnur, dann schießt herab
1150 
Das Beil, ganz lustig und munter; -
1151 
Bei dieser Gelegenheit fällt dein Kopf
1152 
In einen Sack hinunter."
 
1153 
Der Kaiser fiel mir in die Red':
1154 
"Schweig still, von deiner Maschine
1155 
Will ich nichts wissen, Gott bewahr',
1156 
Daß ich mich ihrer bediene!
 
1157 
Der König und die Königin!
1158 
Geschnallt! an einem Brette!
1159 
Das ist ja gegen allen Respekt
1160 
Und alle Etikette!
 
1161 
Und du, wer bist du, daß du es wagst,
1162 
Mich so vertraulich zu duzen?
1163 
Warte, du Bürschchen, ich werde dir schon
1164 
Die kecken Flügel stutzen!
 
1165 
Es regt mir die innerste Galle auf,
1166 
Wenn ich dich höre sprechen,
1167 
Dein Odem schon ist Hochverrat
1168 
Und Majestätsverbrechen!"
 
1169 
Als solchermaßen in Eifer geriet
1170 
Der Alte und sonder Schranken
1171 
Und Schonung mich anschnob, da platzten heraus
1172 
Auch mir die geheimsten Gedanken.
 
1173 
"Herr Rotbart" - rief ich laut -, "du bist
1174 
Ein altes Fabelwesen,
1175 
Geh, leg dich schlafen, wir werden uns
1176 
Auch ohne dich erlösen.
 
1177 
Die Republikaner lachen uns aus,
1178 
Sehn sie an unserer Spitze
1179 
So ein Gespenst mit Zepter und Kron';
1180 
Sie rissen schlechte Witze.
 
1181 
Auch deine Fahne gefällt mir nicht mehr,
1182 
Die altdeutschen Narren verdarben
1183 
Mir schon in der Burschenschaft die Lust
1184 
An den schwarzrotgoldnen Farben.
 
1185 
Das beste wäre, du bliebest zu Haus,
1186 
Hier in dem alten Kyffhäuser -
1187 
Bedenk ich die Sache ganz genau,
1188 
So brauchen wir gar keinen Kaiser."
 
1189 
Caput XVII
 
1190 
Ich habe mich mit dem Kaiser gezankt
1191 
Im Traum, im Traum versteht sich -
1192 
Im wachenden Zustand sprechen wir nicht
1193 
Mit Fürsten so widersetzig.
 
1194 
Nur träumend, im idealen Traum,
1195 
Wagt ihnen der Deutsche zu sagen
1196 
Die deutsche Meinung, die er so tief
1197 
Im treuen Herzen getragen.
 
1198 
Als ich erwacht', fuhr ich einem Wald
1199 
Vorbei, der Anblick der Bäume,
1200 
Der nackten hölzernen Wirklichkeit,
1201 
Verscheuchte meine Träume.
 
1202 
Die Eichen schüttelten ernsthaft das Haupt,
1203 
Die Birken und Birkenreiser,
1204 
Sie nickten so warnend - und ich rief:
1205 
"Vergib mir, mein teurer Kaiser!
 
1206 
Vergib mir, o Rotbart, das rasche Wort!
1207 
Ich weiß, du bist viel weiser
1208 
Als ich, ich habe sowenig Geduld -
1209 
Doch komme du bald, mein Kaiser!
 
1210 
Behagt dir das Guillotinieren nicht,
1211 
So bleib bei den alten Mitteln:
1212 
Das Schwert für Edelleute, der Strick
1213 
Für Bürger und Bauern in Kitteln.
 
1214 
Nur manchmal wechsle ab, und laß
1215 
Den Adel hängen, und köpfe
1216 
Ein bißchen die Bürger und Bauern, wir sind
1217 
Ja alle Gottesgeschöpfe.
 
1218 
Stell wieder her das Halsgericht,
1219 
Das peinliche Karls des Fünften,
1220 
Und teile wieder ein das Volk
1221 
Nach Ständen, Gilden und Zünften.
 
1222 
Das alte Heilige Römische Reich,
1223 
Stell's wieder her, das ganze,
1224 
Gib uns den modrigsten Plunder zurück
1225 
Mit allem Firlifanze.
 
1226 
Das Mittelalter, immerhin,
1227 
Das wahre, wie es gewesen,
1228 
Ich will es ertragen - erlöse uns nur
1229 
Von jenem Zwitterwesen,
 
1230 
Von jenem Kamaschenrittertum,
1231 
Das ekelhaft ein Gemisch ist
1232 
Von gotischem Wahn und modernem Lug,
1233 
Das weder Fleisch noch Fisch ist.
 
1234 
Jag fort das Komödiantenpack,
1235 
Und schließe die Schauspielhäuser,
1236 
Wo man die Vorzeit parodiert -
1237 
Komme du bald, o Kaiser!"
 
1238 
Caput XVIII
 
1239 
Minden ist eine feste Burg,
1240 
Hat gute Wehr und Waffen!
1241 
Mit preußischen Festungen hab ich jedoch
1242 
Nicht gerne was zu schaffen.
 
1243 
Wir kamen dort an zur Abendzeit.
1244 
Die Planken der Zugbrück' stöhnten
1245 
So schaurig, als wir hinübergerollt;
1246 
Die dunklen Gräben gähnten.
 
1247 
Die hohen Bastionen schauten mich an,
1248 
So drohend und verdrossen;
1249 
Das große Tor ging rasselnd auf,
1250 
Ward rasselnd wieder geschlossen.
 
1251 
Ach! meine Seele ward betrübt,
1252 
Wie des Odysseus Seele,
1253 
Als er gehört, daß Polyphem
1254 
Den Felsblock schob vor die Höhle.
 
1255 
Es trat an den Wagen ein Korporal
1256 
Und frug uns: wie wir hießen?
1257 
"Ich heiße Niemand, bin Augenarzt
1258 
Und steche den Star den Riesen."
 
1259 
Im Wirtshaus ward mir noch schlimmer zumut',
1260 
Das Essen wollt mir nicht schmecken.
1261 
Ging schlafen sogleich, doch schlief ich nicht,
1262 
Mich drückten so schwer die Decken.
 
1263 
Es war ein breites Federbett,
1264 
Gardinen von rotem Damaste,
1265 
Der Himmel von verblichenem Gold,
1266 
Mit einem schmutzigen Quaste.
 
1267 
Verfluchter Quast! der die ganze Nacht
1268 
Die liebe Ruhe mir raubte!
1269 
Er hing mir, wie des Damokles Schwert,
1270 
So drohend über dem Haupte!
 
1271 
Schien manchmal ein Schlangenkopf zu sein,
1272 
Und ich hörte ihn heimlich zischen:
1273 
"Du bist und bleibst in der Festung jetzt,
1274 
Du kannst nicht mehr entwischen!"
 
1275 
"Oh, daß ich wäre" - seufzte ich -
1276 
"Daß ich zu Hause wäre,
1277 
Bei meiner lieben Frau in Paris,
1278 
Im Faubourg Poissonnière!"
 
1279 
Ich fühlte, wie über die Stirne mir
1280 
Auch manchmal etwas gestrichen,
1281 
Gleich einer kalten Zensorhand,
1282 
Und meine Gedanken wichen -
 
1283 
Gendarmen in Leichenlaken gehüllt,
1284 
Ein weißes Spukgewirre,
1285 
Umringte mein Bett, ich hörte auch
1286 
Unheimliches Kettengeklirre.
 
1287 
Ach! die Gespenster schleppten mich fort,
1288 
Und ich hab mich endlich befunden
1289 
An einer steilen Felsenwand;
1290 
Dort war ich festgebunden.
 
1291 
Der böse schmutzige Betthimmelquast!
1292 
Ich fand ihn gleichfalls wieder,
1293 
Doch sah er jetzt wie ein Geier aus,
1294 
Mit Krallen und schwarzem Gefieder.
 
1295 
Er glich dem preußischen Adler jetzt,
1296 
Und hielt meinen Leib umklammert;
1297 
Er fraß mir die Leber aus der Brust,
1298 
Ich habe gestöhnt und gejammert.
 
1299 
Ich jammerte lange - da krähte der Hahn,
1300 
Und der Fiebertraum erblaßte.
1301 
Ich lag zu Minden im schwitzenden Bett,
1302 
Der Adler ward wieder zum Quaste.
 
1303 
Ich reiste fort mit Extrapost,
1304 
Und schöpfte freien Odem
1305 
Erst draußen in der freien Natur,
1306 
Auf bückeburgschem Boden.
 
1307 
Caput XIX
 
1308 
Oh, Danton, du hast dich sehr geirrt
1309 
Und mußtest den Irrtum büßen!
1310 
Mitnehmen kann man das Vaterland
1311 
An den Sohlen, an den Füßen.
 
1312 
Das halbe Fürstentum Bückeburg
1313 
Blieb mir an den Stiefeln kleben;
1314 
So lehmichte Wege habe ich wohl
1315 
Noch nie gesehen im Leben.
 
1316 
Zu Bückeburg stieg ich ab in der Stadt,
1317 
Um dort zu betrachten die Stammburg,
1318 
Wo mein Großvater geboren ward;
1319 
Die Großmutter war aus Hamburg.
 
1320 
Ich kam nach Hannover um Mittagzeit,
1321 
Und ließ mir die Stiefel putzen.
1322 
Ich ging sogleich, die Stadt zu besehn,
1323 
Ich reise gern mit Nutzen.
 
1324 
Mein Gott! da sieht es sauber aus!
1325 
Der Kot liegt nicht auf den Gassen.
1326 
Viel Prachtgebäude sah ich dort,
1327 
Sehr imponierende Massen.
 
1328 
Besonders gefiel mir ein großer Platz,
1329 
Umgeben von stattlichen Häusern;
1330 
Dort wohnt der König, dort steht sein Palast,
1331 
Er ist von schönem Äußern
 
1332 
(Nämlich der Palast). Vor dem Portal
1333 
Zu jeder Seite ein Schildhaus.
1334 
Rotröcke mit Flinten halten dort Wacht,
1335 
Sie sehen drohend und wild aus.
 
1336 
Mein Cicerone sprach: "Hier wohnt
1337 
Der Ernst Augustus, ein alter,
1338 
Hochtoryscher Lord, ein Edelmann,
1339 
Sehr rüstig für sein Alter.
 
1340 
Idyllisch sicher haust er hier,
1341 
Denn besser als alle Trabanten
1342 
Beschützet ihn der mangelnde Mut
1343 
Von unseren lieben Bekannten.
 
1344 
Ich seh ihn zuweilen, er klagt alsdann,
1345 
Wie gar langweilig das Amt sei,
1346 
Das Königsamt, wozu er jetzt
1347 
Hier in Hannover verdammt sei.
 
1348 
An großbritannisches Leben gewöhnt,
1349 
Sei es ihm hier zu enge,
1350 
Ihn plage der Spleen, er fürchte schier,
1351 
Daß er sich mal erhänge.
 
1352 
Vorgestern fand ich ihn traurig gebückt
1353 
Am Kamin, in der Morgenstunde;
1354 
Er kochte höchstselbst ein Lavement
1355 
Für seine kranken Hunde."
 
1356 
Caput XX
 
1357 
Von Harburg fuhr ich in einer Stund'
1358 
Nach Hamburg. Es war schon Abend.
1359 
Die Sterne am Himmel grüßten mich,
1360 
Die Luft war lind und labend.
 
1361 
Und als ich zu meiner Frau Mutter kam,
1362 
Erschrak sie fast vor Freude;
1363 
Sie rief: "Mein liebes Kind!" und schlug
1364 
Zusammen die Hände beide.
 
1365 
"Mein liebes Kind, wohl dreizehn Jahr'
1366 
Verflossen unterdessen!
1367 
Du wirst gewiß sehr hungrig sein -
1368 
Sag an, was willst du essen?
 
1369 
Ich habe Fisch und Gänsefleisch
1370 
Und schöne Apfelsinen."
1371 
"So gib mir Fisch und Gänsefleisch
1372 
Und schöne Apfelsinen."
 
1373 
Und als ich aß mit großem App'tit,
1374 
Die Mutter ward glücklich und munter,
1375 
Sie frug wohl dies, sie frug wohl das,
1376 
Verfängliche Fragen mitunter.
 
1377 
"Mein liebes Kind! und wirst du auch
1378 
Recht sorgsam gepflegt in der Fremde?
1379 
Versteht deine Frau die Haushaltung,
1380 
Und flickt sie dir Strümpfe und Hemde?"
 
1381 
"Der Fisch ist gut, lieb Mütterlein,
1382 
Doch muß man ihn schweigend verzehren;
1383 
Man kriegt so leicht eine Grät' in den Hals,
1384 
Du darfst mich jetzt nicht stören."
 
1385 
Und als ich den braven Fisch verzehrt,
1386 
Die Gans ward aufgetragen.
1387 
Die Mutter frug wieder wohl dies, wohl das,
1388 
Mitunter verfängliche Fragen.
 
1389 
"Mein liebes Kind! in welchem Land
1390 
Läßt sich am besten leben?
1391 
Hier oder in Frankreich? und welchem Volk
1392 
Wirst du den Vorzug geben?"
 
1393 
"Die deutsche Gans, lieb Mütterlein,
1394 
Ist gut, jedoch die Franzosen,
1395 
Sie stopfen die Gänse besser als wir,
1396 
Auch haben sie bessere Saucen." -
 
1397 
Und als die Gans sich wieder empfahl,
1398 
Da machten ihre Aufwartung
1399 
Die Apfelsinen, sie schmeckten so süß,
1400 
Ganz über alle Erwartung.
 
1401 
Die Mutter aber fing wieder an
1402 
Zu fragen sehr vergnüglich,
1403 
Nach tausend Dingen, mitunter sogar
1404 
Nach Dingen, die sehr anzüglich.
 
1405 
"Mein liebes Kind! Wie denkst du jetzt?
1406 
Treibst du noch immer aus Neigung
1407 
Die Politik? Zu welcher Partei
1408 
Gehörst du mit Überzeugung?"
 
1409 
"Die Apfelsinen, lieb Mütterlein,
1410 
Sind gut, und mit wahrem Vergnügen
1411 
Verschlucke ich den süßen Saft,
1412 
Und ich lasse die Schalen liegen."
 
1413 
Caput XXI
 
1414 
Die Stadt, zur Hälfte abgebrannt,
1415 
Wird aufgebaut allmählich;
1416 
Wie'n Pudel, der halb geschoren ist,
1417 
Sieht Hamburg aus, trübselig.
 
1418 
Gar manche Gassen fehlen mir,
1419 
Die ich nur ungern vermisse -
1420 
Wo ist das Haus, wo ich geküßt
1421 
Der Liebe erste Küsse?
 
1422 
Wo ist die Druckerei, wo ich
1423 
Die "Reisebilder" druckte?
1424 
Wo ist der Austerkeller, wo ich
1425 
Die ersten Austern schluckte?
 
1426 
Und der Dreckwall, wo ist der Dreckwall hin?
1427 
Ich kann ihn vergeblich suchen!
1428 
Wo ist der Pavillon, wo ich
1429 
Gegessen so manchen Kuchen?
 
1430 
Wo ist das Rathaus, worin der Senat
1431 
Und die Bürgerschaft gethronet?
1432 
Ein Raub der Flammen! Die Flamme hat
1433 
Das Heiligste nicht verschonet.
 
1434 
Die Leute seufzten noch vor Angst,
1435 
Und mit wehmüt'gem Gesichte
1436 
Erzählten sie mir vom großen Brand
1437 
Die schreckliche Geschichte:
 
1438 
"Es brannte an allen Ecken zugleich,
1439 
Man sah nur Rauch und Flammen!
1440 
Die Kirchentürme loderten auf
1441 
Und stürzten krachend zusammen.
 
1442 
Die alte Börse ist verbrannt,
1443 
Wo unsere Väter gewandelt,
1444 
Und miteinander jahrhundertelang
1445 
So redlich als möglich gehandelt.
 
1446 
Die Bank, die silberne Seele der Stadt,
1447 
Und die Bücher, wo eingeschrieben
1448 
Jedweden Mannes Banko-Wert,
1449 
Gottlob! sie sind uns geblieben!
 
1450 
Gottlob! man kollektierte für uns
1451 
Selbst bei den fernsten Nationen -
1452 
Ein gutes Geschäft - die Kollekte betrug
1453 
Wohl an die acht Millionen.
 
1454 
Aus allen Ländern floß das Geld
1455 
In unsre offnen Hände,
1456 
Auch Viktualien nahmen wir an,
1457 
Verschmähten keine Spende.
 
1458 
Man schickte uns Kleider und Betten genug,
1459 
Auch Brot und Fleisch und Suppen!
1460 
Der König von Preußen wollte sogar
1461 
Uns schicken seine Truppen.
 
1462 
Der materielle Schaden ward
1463 
Vergütet, das ließ sich schätzen -
1464 
Jedoch den Schrecken, unseren Schreck,
1465 
Den kann uns niemand ersetzen!"
 
1466 
Aufmunternd sprach ich: "Ihr lieben Leut',
1467 
Ihr müßt nicht jammern und flennen;
1468 
Troja war eine bessere Stadt,
1469 
Und mußte doch verbrennen.
 
1470 
Baut eure Häuser wieder auf
1471 
Und trocknet eure Pfützen,
1472 
Und schafft euch beßre Gesetze an
1473 
Und beßre Feuerspritzen.
 
1474 
Gießt nicht zuviel Cayenne-Piment
1475 
In eure Mockturtlesuppen,
1476 
Auch eure Karpfen sind euch nicht gesund,
1477 
Ihr kocht sie so fett mit den Schuppen.
 
1478 
Kalkuten schaden euch nicht viel,
1479 
Doch hütet euch vor der Tücke
1480 
Des Vogels, der sein Ei gelegt
1481 
In des Bürgermeisters Perücke. --
 
1482 
Wer dieser fatale Vogel ist,
1483 
Ich brauch es euch nicht zu sagen -
1484 
Denk ich an ihn, so dreht sich herum
1485 
Das Essen in meinem Magen."
 
1486 
Caput XXII
 
1487 
Noch mehr verändert als die Stadt
1488 
Sind mir die Menschen erschienen,
1489 
Sie gehn so betrübt und gebrochen herum,
1490 
Wie wandelnde Ruinen.
 
1491 
Die Mageren sind noch dünner jetzt,
1492 
Noch fetter sind die Feisten,
1493 
Die Kinder sind alt, die Alten sind
1494 
Kindisch geworden, die meisten.
 
1495 
Gar manche, die ich als Kälber verließ,
1496 
Fand ich als Ochsen wieder;
1497 
Gar manches kleine Gänschen ward
1498 
Zur Gans mit stolzem Gefieder.
 
1499 
Die alte Gudel fand ich geschminkt
1500 
Und geputzt wie eine Sirene;
1501 
Hat schwarze Locken sich angeschafft
1502 
Und blendend weiße Zähne.
 
1503 
Am besten hat sich konserviert
1504 
Mein Freund, der Papierverkäufer;
1505 
Sein Haar ward gelb und umwallt sein Haupt,
1506 
Sieht aus wie Johannes der Täufer.
 
1507 
Den ***, den sah ich nur von fern,
1508 
Er huschte mir rasch vorüber;
1509 
Ich höre, sein Geist ist abgebrannt
1510 
Und war versichert bei Bieber.
 
1511 
Auch meinen alten Zensor sah
1512 
Ich wieder. Im Nebel, gebücket,
1513 
Begegnet' er mir auf dem Gänsemarkt,
1514 
Schien sehr darniedergedrücket.
 
1515 
Wir schüttelten uns die Hände, es schwamm
1516 
Im Auge des Manns eine Träne.
1517 
Wie freute er sich, mich wiederzusehn!
1518 
Es war eine rührende Szene. -
 
1519 
Nicht alle fand ich. Mancher hat
1520 
Das Zeitliche gesegnet.
1521 
Ach! meinem Gumpelino sogar
1522 
Bin ich nicht mehr begegnet.
 
1523 
Der Edle hatte ausgehaucht
1524 
Die große Seele soeben,
1525 
Und wird als verklärter Seraph jetzt
1526 
Am Throne Jehovas schweben.
 
1527 
Vergebens suchte ich überall
1528 
Den krummen Adonis, der Tassen
1529 
Und Nachtgeschirr von Porzellan
1530 
Feilbot in Hamburgs Gassen.
 
1531 
Sarras, der treue Pudel, ist tot.
1532 
Ein großer Verlust! Ich wette,
1533 
Daß Campe lieber ein ganzes Schock
1534 
Schriftsteller verloren hätte. --
 
1535 
Die Population des Hamburger Staats
1536 
Besteht, seit Menschengedenken,
1537 
Aus Juden und Christen; es pflegen auch
1538 
Die letztren nicht viel zu verschenken.
 
1539 
Die Christen sind alle ziemlich gut,
1540 
Auch essen sie gut zu Mittag,
1541 
Und ihre Wechsel bezahlen sie prompt,
1542 
Noch vor dem letzten Respittag.
 
1543 
Die Juden teilen sich wieder ein
1544 
In zwei verschiedne Parteien;
1545 
Die Alten gehn in die Synagog',
1546 
Und in den Tempel die Neuen.
 
1547 
Die Neuen essen Schweinefleisch,
1548 
Zeigen sich widersetzig,
1549 
Sind Demokraten; die Alten sind
1550 
Vielmehr aristokrätzig.
 
1551 
Ich liebe die Alten, ich liebe die Neu'n -
1552 
Doch schwör ich, beim ewigen Gotte,
1553 
Ich liebe gewisse Fischchen noch mehr,
1554 
Man heißt sie geräucherte Sprotte.
 
1555 
Caput XXIII
 
1556 
Als Republik war Hamburg nie
1557 
So groß wie Venedig und Florenz,
1558 
Doch Hamburg hat bessere Austern; man speist
1559 
Die besten im Keller von Lorenz.
 
1560 
Es war ein schöner Abend, als ich
1561 
Mich hinbegab mit Campen;
1562 
Wir wollten miteinander dort
1563 
In Rheinwein und Austern schlampampen.
 
1564 
Auch gute Gesellschaft fand ich dort,
1565 
Mit Freude sah ich wieder
1566 
Manch alten Genossen, zum Beispiel Chaufepié,
1567 
Auch manche neue Brüder.
 
1568 
Da war der Wille, dessen Gesicht
1569 
Ein Stammbuch, worin mit Hieben
1570 
Die akademischen Feinde sich
1571 
Recht leserlich eingeschrieben.
 
1572 
Da war der Fucks, ein blinder Heid'
1573 
Und persönlicher Feind des Jehova,
1574 
Glaubt nur an Hegel und etwa noch
1575 
An die Venus des Canova.
 
1576 
Mein Campe war Amphitryo
1577 
Und lächelte vor Wonne;
1578 
Sein Auge strahlte Seligkeit,
1579 
Wie eine verklärte Madonne.
 
1580 
Ich aß und trank, mit gutem App'tit,
1581 
Und dachte in meinem Gemüte:
1582 
'Der Campe ist wirklich ein großer Mann,
1583 
Ist aller Verleger Blüte.
 
1584 
Ein andrer Verleger hätte mich
1585 
Vielleicht verhungern lassen,
1586 
Der aber gibt mir zu trinken sogar;
1587 
Werde ihn niemals verlassen.
 
1588 
Ich danke dem Schöpfer in der Höh',
1589 
Der diesen Saft der Reben
1590 
Erschuf, und zum Verleger mir
1591 
Den Julius Campe gegeben!
 
1592 
Ich danke dem Schöpfer in der Höh',
1593 
Der, durch sein großes Werde,
1594 
Die Austern erschaffen in der See
1595 
Und den Rheinwein auf der Erde!
 
1596 
Der auch Zitronen wachsen ließ,
1597 
Die Austern zu betauen -
1598 
Nun laß mich, Vater, diese Nacht
1599 
Das Essen gut verdauen!'
 
1600 
Der Rheinwein stimmt mich immer weich
1601 
Und löst jedwedes Zerwürfnis
1602 
In meiner Brust, entzündet darin
1603 
Der Menschenliebe Bedürfnis.
 
1604 
Es treibt mich aus dem Zimmer hinaus,
1605 
Ich muß in den Straßen schlendern;
1606 
Die Seele sucht eine Seele und späht
1607 
Nach zärtlich weißen Gewändern.
 
1608 
In solchen Momenten zerfließe ich fast
1609 
Vor Wehmut und vor Sehnen;
1610 
Die Katzen scheinen mir alle grau,
1611 
Die Weiber alle Helenen. ---
 
1612 
Und als ich auf die Drehbahn kam,
1613 
Da sah ich im Mondenschimmer
1614 
Ein hehres Weib, ein wunderbar
1615 
Hochbusiges Frauenzimmer.
 
1616 
Ihr Antlitz war rund und kerngesund,
1617 
Die Augen wie blaue Turkoasen,
1618 
Die Wangen wie Rosen, wie Kirschen der Mund,
1619 
Auch etwas rötlich die Nase.
 
1620 
Ihr Haupt bedeckte eine Mütz'
1621 
Von weißem gesteiftem Linnen,
1622 
Gefältelt wie eine Mauerkron',
1623 
Mit Türmchen und zackigen Zinnen.
 
1624 
Sie trug eine weiße Tunika,
1625 
Bis an die Waden reichend.
1626 
Und welche Waden! Das Fußgestell
1627 
Zwei dorischen Säulen gleichend.
 
1628 
Die weltlichste Natürlichkeit
1629 
Konnt man in den Zügen lesen;
1630 
Doch das übermenschliche Hinterteil
1631 
Verriet ein höheres Wesen.
 
1632 
Sie trat zu mir heran und sprach:
1633 
"Willkommen an der Elbe
1634 
Nach dreizehnjähr'ger Abwesenheit -
1635 
Ich sehe, du bist noch derselbe!
 
1636 
Du suchst die schönen Seelen vielleicht,
1637 
Die dir so oft begegent
1638 
Und mit dir geschwärmt die Nacht hindurch,
1639 
In dieser schönen Gegend.
 
1640 
Das Leben verschlang sie, das Ungetüm,
1641 
Die hundertköpfige Hyder;
1642 
Du findest nicht die alte Zeit
1643 
Und die Zeitgenössinnen wieder!
 
1644 
Du findest die holden Blumen nicht mehr,
1645 
Die das junge Herz vergöttert;
1646 
Hier blühten sie - jetzt sind sie verwelkt,
1647 
Und der Sturm hat sie entblättert.
 
1648 
Verwelkt, entblättert, zertreten sogar
1649 
Von rohen Schicksalsfüßen -
1650 
Mein Freund, das ist auf Erden das Los
1651 
Von allem Schönen und Süßen!"
 
1652 
"Wer bist du?" - rief ich - "du schaust mich an
1653 
Wie'n Traum aus alten Zeiten -
1654 
Wo wohnst du, großes Frauenbild?
1655 
Und darf ich dich begleiten?"
 
1656 
Da lächelte das Weib und sprach:
1657 
"Du irrst dich, ich bin eine feine,
1658 
Anständ'ge, moralische Person;
1659 
Du irrst dich, ich bin nicht so eine.
 
1660 
Ich bin nicht so eine kleine Mamsell,
1661 
So eine welsche Lorettin -
1662 
Denn wisse: ich bin Hammonia,
1663 
Hamburgs beschützende Göttin!
 
1664 
Du stutzest und erschreckst sogar,
1665 
Du sonst so mutiger Sänger!
1666 
Willst du mich noch begleiten jetzt?
1667 
Wohlan, so zögre nicht länger."
 
1668 
Ich aber lachte laut und rief:
1669 
"Ich folge auf der Stelle -
1670 
Schreit du voran, ich folge dir,
1671 
Und ging' es in die Hölle!"
 
1672 
Caput XXIV
 
1673 
Wie ich die enge Sahltrepp' hinauf.
1674 
Gekommen, ich kann es nicht sagen;
1675 
Es haben unsichtbare Geister mich
1676 
Vielleicht hinaufgetragen.
 
1677 
Hier, in Hammonias Kämmerlein,
1678 
Verflossen mir schnell die Stunden.
1679 
Die Göttin gestand die Sympathie,
1680 
Die sie immer für mich empfunden.
 
1681 
"Siehst du" - sprach sie -, "in früherer Zeit
1682 
War mir am meisten teuer
1683 
Der Sänger, der den Messias besang
1684 
Auf seiner frommen Leier.
 
1685 
Dort auf der Kommode steht noch jetzt
1686 
Die Büste von meinem Klopstock,
1687 
Jedoch seit Jahren dient sie mir
1688 
Nur noch als Haubenkopfstock.
 
1689 
Du bist mein Liebling jetzt, es hängt
1690 
Dein Bildnis zu Häupten des Bettes;
1691 
Und, siehst du, ein frischer Lorbeer umkränzt
1692 
Den Rahmen des holden Porträtes.
 
1693 
Nur daß du meine Söhne so oft
1694 
Genergelt, ich muß es gestehen,
1695 
Hat mich zuweilen tief verletzt;
1696 
Das darf nicht mehr geschehen.
 
1697 
Es hat die Zeit dich hoffentlich
1698 
Von solcher Unart geheilet,
1699 
Und dir eine größere Toleranz
1700 
Sogar für Narren erteilet.
 
1701 
Doch sprich, wie kam der Gedanke dir,
1702 
Zu reisen nach dem Norden
1703 
In solcher Jahrzeit? Das Wetter ist
1704 
Schon winterlich geworden!"
 
1705 
"Oh, meine Göttin!" - erwiderte ich -
1706 
"Es schlafen tief im Grunde
1707 
Des Menschenherzens Gedanken, die oft
1708 
Erwachen zur unrechten Stunde.
 
1709 
Es ging mir äußerlich ziemlich gut,
1710 
Doch innerlich war ich beklommen,
1711 
Und die Beklemmnis täglich wuchs -
1712 
Ich hatte das Heimweh bekommen.
 
1713 
Die sonst so leichte französische Luft,
1714 
Sie fing mich an zu drücken;
1715 
Ich mußte Atem schöpfen hier
1716 
In Deutschland, um nicht zu ersticken.
 
1717 
Ich sehnte mich nach Torfgeruch,
1718 
Nach deutschem Tabaksdampfe;
1719 
Es bebte mein Fuß vor Ungeduld,
1720 
Daß er deutschen Boden stampfe.
 
1721 
Ich seufzte des Nachts, und sehnte mich,
1722 
Daß ich sie wiedersähe,
1723 
Die alte Frau, die am Dammtor wohnt;
1724 
Das Lottchen wohnt in der Nähe.
 
1725 
Auch jenem edlen alten Herrn,
1726 
Der immer mich ausgescholten
1727 
Und immer großmütig beschützt, auch ihm
1728 
Hat mancher Seufzer gegolten.
 
1729 
Ich wollte wieder aus seinem Mund
1730 
Vernehmen den 'dummen Jungen',
1731 
Das hat mir immer wie Musik
1732 
Im Herzen nachgeklungen.
 
1733 
Ich sehnte mich nach dem blauen Rauch,
1734 
Der aufsteigt aus deutschen Schornsteinen,
1735 
Nach niedersächsischen Nachtigall'n,
1736 
Nach stillen Buchenhainen.
 
1737 
Ich sehnte mich nach den Plätzen sogar,
1738 
Nach jenen Leidensstationen,
1739 
Wo ich geschleppt das Jugendkreuz
1740 
Und meine Dornenkronen.
 
1741 
Ich wollte weinen, wo ich einst
1742 
Geweint die bittersten Tränen -
1743 
Ich glaube, Vaterlandsliebe nennt
1744 
Man dieses törichte Sehnen.
 
1745 
Ich spreche nicht gern davon; es ist
1746 
Nur eine Krankheit im Grunde.
1747 
Verschämten Gemütes, verberge ich stets
1748 
Dem Publiko meine Wunde.
 
1749 
Fatal ist mir das Lumpenpack,
1750 
Das, um die Herzen zu rühren,
1751 
Den Patriotismus trägt zur Schau
1752 
Mit allen seinen Geschwüren.
 
1753 
Schamlose schäbige Bettler sind's,
1754 
Almosen wollen sie haben -
1755 
Ein'n Pfennig Popularität
1756 
Für Menzel und seine Schwaben!
 
1757 
Oh, meine Göttin, du hast mich heut
1758 
In weicher Stimmung gefunden;
1759 
Bin etwas krank, doch pfleg ich mich,
1760 
Und ich werde bald gesunden.
 
1761 
Ja, ich bin krank, und du könntest mir
1762 
Die Seele sehr erfrischen
1763 
Durch eine gute Tasse Tee;
1764 
Du mußt ihn mit Rum vermischen."
 
1765 
Caput XXV
 
1766 
Die Göttin hat mir Tee gekocht
1767 
Und Rum hineingegossen;
1768 
Sie selber aber hat den Rum
1769 
Ganz ohne Tee genossen.
 
1770 
An meine Schulter lehnte sie
1771 
Ihr Haupt (die Mauerkrone,
1772 
Die Mütze, ward etwas zerknittert davon),
1773 
Und sie sprach mit sanftem Tone:
 
1774 
"Ich dachte manchmal mit Schrecken dran,
1775 
Daß du in dem sittenlosen
1776 
Paris so ganz ohne Aufsicht lebst,
1777 
Bei jenen frivolen Franzosen.
 
1778 
Du schlenderst dort herum und hast
1779 
Nicht mal an deiner Seite
1780 
Einen treuen deutschen Verleger, der dich
1781 
Als Mentor warne und leite.
 
1782 
Und die Verführung ist dort so groß,
1783 
Dort gibt es so viele Sylphiden,
1784 
Die ungesund, und gar zu leicht
1785 
Verliert man den Seelenfrieden.
 
1786 
Geh nicht zurück und bleib bei uns;
1787 
Hier herrschen noch Zucht und Sitte,
1788 
Und manches stille Vergnügen blüht
1789 
Auch hier, in unserer Mitte.
 
1790 
Bleib bei uns in Deutschland, es wird dir hier
1791 
Jetzt besser als eh'mals munden;
1792 
Wir schreiten fort, du hast gewiß
1793 
Den Fortschritt selbst gefunden.
 
1794 
Auch die Zensur ist nicht mehr streng,
1795 
Hoffmann wird älter und milder
1796 
Und streicht nicht mehr mit Jugendzorn
1797 
Dir deine "Reisebilder".
 
1798 
Du selbst bist älter und milder jetzt,
1799 
Wirst dich in manches schicken,
1800 
Und wirst sogar die Vergangenheit
1801 
In besserem Lichte erblicken.
 
1802 
Ja, daß es uns früher so schrecklich ging,
1803 
In Deutschland, ist Übertreibung;
1804 
Man konnte entrinnen der Knechtschaft, wie eins
1805 
In Rom, durch Selbstentleibung.
 
1806 
Gedankenfreiheit genoß das Volk,
1807 
Sie war für die großen Massen,
1808 
Beschränkung traf nur die g'ringe Zahl
1809 
Derjen'gen, die drucken lassen.
 
1810 
Gesetzlose Willkür herrschte nie,
1811 
Dem schlimmsten Demagogen
1812 
Ward niemals ohne Urteilspruch
1813 
Die Staatskokarde entzogen.
 
1814 
So übel war es in Deutschland nie,
1815 
Trotz aller Zeitbedrängnis -
1816 
Glaub mir, verhungert ist nie ein Mensch
1817 
In einem deutschen Gefängnis.
 
1818 
Es blühte in der Vergangenheit
1819 
So manche schöne Erscheinung
1820 
Des Glaubens und der Gemütlichkeit;
1821 
Jetzt herrscht nur Zweifel, Verneinung.
 
1822 
Die praktische äußere Freiheit wird einst
1823 
Das Ideal vertilgen,
1824 
Das wir im Busen getragen - es war
1825 
So rein wie der Traum der Liljen!
 
1826 
Auch unsre schöne Poesie
1827 
Erlischt, sie ist schon ein wenig
1828 
Erloschen; mit andern Königen stirbt
1829 
Auch Freiligraths Mohrenkönig.
 
1830 
Der Enkel wird essen und trinken genug,
1831 
Doch nicht in beschaulicher Stille;
1832 
Es poltert heran ein Spektakelstück,
1833 
Zu Ende geht die Idylle.
 
1834 
Oh, könntest du schweigen, ich würde dir
1835 
Das Buch des Schicksals entsiegeln,
1836 
Ich ließe dir spätere Zeiten sehn
1837 
In meinen Zauberspiegeln.
 
1838 
Was ich den sterblichen Menschen nie
1839 
Gezeigt, ich möcht es dir zeigen:
1840 
Die Zukunft deines Vaterlands -
1841 
Doch ach! du kannst nicht schweigen!"
 
1842 
"Mein Gott, o Göttin!" - rief ich entzückt -
1843 
"Das wäre mein größtes Vergnügen,
1844 
Laß mich das künftige Deutschland sehn -
1845 
Ich bin ein Mann und verschwiegen.
 
1846 
Ich will dir schwören jeden Eid,
1847 
Den du nur magst begehren,
1848 
Mein Schweigen zu verbürgen dir -
1849 
Sag an, wie soll ich schwören?"
 
1850 
Doch jene erwiderte: "Schwöre mir
1851 
In Vater Abrahams Weise,
1852 
Wie er Eliesern schwören ließ,
1853 
Als dieser sich gab auf die Reise.
 
1854 
Heb auf das Gewand und lege die Hand
1855 
Hier unten an meine Hüften,
1856 
Und schwöre mir Verschwiegenheit
1857 
In Reden und in Schriften!"
 
1858 
Ein feierlicher Moment! Ich war
1859 
Wie angeweht vom Hauche
1860 
Der Vorzeit, als ich schwur den Eid,
1861 
Nach uraltem Erzväterbrauche.
 
1862 
Ich hob das Gewand der Göttin auf,
1863 
Und legte an ihre Hüften
1864 
Die Hand, gelobend Verschwiegenheit
1865 
In Reden und in Schriften.
 
1866 
Caput XXVI
 
1867 
Die Wangen der Göttin glühten so rot
1868 
(Ich glaube, in die Krone
1869 
Stieg ihr der Rum), und sie sprach zu mir
1870 
In sehr wehmütigem Tone:
 
1871 
"Ich werde alt. Geboren bin ich
1872 
Am Tage von Hamburgs Begründung.
1873 
Die Mutter war Schellfischkönigin
1874 
Hier an der Elbe Mündung.
 
1875 
Mein Vater war ein großer Monarch,
1876 
Carolus Magnus geheißen,
1877 
Er war noch mächt'ger und klüger sogar
1878 
Als Friedrich der Große von Preußen.
 
1879 
Der Stuhl ist zu Aachen, auf welchem er
1880 
Am Tage der Krönung ruhte;
1881 
Den Stuhl, worauf er saß in der Nacht,
1882 
Den erbte die Mutter, die gute.
 
1883 
Die Mutter hinterließ ihn mir,
1884 
Ein Möbel von scheinlosem Äußern,
1885 
Doch böte mir Rothschild all sein Geld,
1886 
Ich würde ihn nicht veräußern.
 
1887 
Siehst du, dort in dem Winkel steht
1888 
Ein alter Sessel, zerrissen
1889 
Das Leder der Lehne, von Mottenfraß
1890 
Zernagt das Polsterkissen.
 
1891 
Doch gehe hin und hebe auf
1892 
Das Kissen von dem Sessel,
1893 
Du schaust eine runde Öffnung dann,
1894 
Darunter einen Kessel -
 
1895 
Das ist ein Zauberkessel, worin
1896 
Die magischen Kräfte brauen,
1897 
Und steckst du in die Ründung den Kopf,
1898 
So wirst du die Zukunft schauen -
 
1899 
Die Zukunft Deutschlands erblickst du hier,
1900 
Gleich wogenden Phantasmen,
1901 
Doch schaudre nicht, wenn aus dem Wust
1902 
Aufsteigen die Miasmen!"
 
1903 
Sie sprach's und lachte sonderbar,
1904 
Ich aber ließ mich nicht schrecken,
1905 
Neugierig eilte ich, den Kopf
1906 
In die furchtbare Ründung zu stecken.
 
1907 
Was ich gesehn, verrate ich nicht,
1908 
Ich habe zu schweigen versprochen,
1909 
Erlaubt ist mir zu sagen kaum,
1910 
O Gott! was ich gerochen! ---
 
1911 
Ich denke mit Widerwillen noch
1912 
An jene schnöden, verfluchten
1913 
Vorspielgerüche, das schien ein Gemisch
1914 
Von altem Kohl und Juchten.
 
1915 
Entsetzlich waren die Düfte, o Gott!
1916 
Die sich nachher erhuben;
1917 
Es war, als fegte man den Mist
1918 
Aus sechsunddreißig Gruben. ---
 
1919 
Ich weiß wohl, was Saint-Just gesagt
1920 
Weiland im Wohlfahrtsausschuß:
1921 
Man heile die große Krankheit nicht
1922 
Mit Rosenöl und Moschus -
 
1923 
Doch dieser deutsche Zukunftsduft
1924 
Mocht alles überragen,
1925 
Was meine Nase je geahnt -
1926 
Ich konnt es nicht länger ertragen--
 
1927 
Mir schwanden die Sinne, und als ich aufschlug
1928 
Die Augen, saß ich an der Seite
1929 
Der Göttin noch immer, es lehnte mein Haupt
1930 
An ihre Brust, die breite.
 
1931 
Es blitzte ihr Blick, es glühte ihr Mund,
1932 
Es zuckten die Nüstern der Nase,
1933 
Bacchantisch umschlang sie den Dichter und sang
1934 
Mit schauerlich wilder Ekstase:
 
1935 
"Bleib bei mir in Hamburg, ich liebe dich,
1936 
Wir wollen trinken und essen
1937 
Den Wein und die Austern der Gegenwart,
1938 
Und die dunkle Zukunft vergessen.
 
1939 
Den Deckel darauf! damit uns nicht
1940 
Der Mißduft die Freude vertrübet -
1941 
Ich liebe dich, wie je ein Weib
1942 
Einen deutschen Poeten geliebet!
 
1943 
Ich küsse dich, und ich fühle, wie mich
1944 
Dein Genius begeistert;
1945 
Es hat ein wunderbarer Rausch
1946 
Sich meiner Seele bemeistert.
 
1947 
Mir ist, als ob ich auf der Straß'
1948 
Die Nachtwächter singen hörte -
1949 
Es sind Hymenäen, Hochzeitmusik,
1950 
Mein süßer Lustgefährte!
 
1951 
Jetzt kommen die reitenden Diener auch
1952 
Mit üppig lodernden Fackeln,
1953 
Sie tanzen ehrbar den Fackeltanz,
1954 
Sie springen und hüpfen und wackeln.
 
1955 
Es kommt der hoch- und wohlweise Senat,
1956 
Es kommen die Oberalten;
1957 
Der Bürgermeister räuspert sich
1958 
Und will eine Rede halten.
 
1959 
In glänzender Uniform erscheint
1960 
Das Korps der Diplomaten;
1961 
Sie gratulieren mit Vorbehalt
1962 
Im Namen der Nachbarstaaten.
 
1963 
Es kommt die geistliche Deputation,
1964 
Rabbiner und Pastöre -
1965 
Doch ach! da kommt der Hoffmann auch
1966 
Mit seiner Zensorschere!
 
1967 
Die Schere klirrt in seiner Hand,
1968 
Es rückt der wilde Geselle
1969 
Dir auf den Leib - er schneidet ins Fleisch -
1970 
Es war die beste Stelle."
 
1971 
Caput XXVII
 
1972 
Was sich in jener Wundernacht
1973 
Des weitern zugetragen,
1974 
Erzähl ich euch ein andermal,
1975 
In warmen Sommertagen.
 
1976 
Das alte Geschlecht der Heuchelei
1977 
Verschwindet, Gott sei Dank, heut,
1978 
Es sinkt allmählich ins Grab, es stirbt
1979 
An seiner Lügenkrankheit.
 
1980 
Es wächst heran ein neues Geschlecht,
1981 
Ganz ohne Schminke und Sünden,
1982 
Mit freien Gedanken, mit freier Lust -
1983 
Dem werde ich alles verkünden.
 
1984 
Schon knospet die Jugend, welche versteht
1985 
Des Dichters Stolz und Güte,
1986 
Und sich an seinem Herzen wärmt,
1987 
An seinem Sonnengemüte.
 
1988 
Mein Herz ist liebend wie das Licht,
1989 
Und rein und keusch wie das Feuer;
1990 
Die edelsten Grazien haben gestimmt
1991 
Die Saiten meiner Leier.
 
1992 
Es ist dieselbe Leier, die einst
1993 
Mein Vater ließ ertönen,
1994 
Der selige Herr Aristophanes,
1995 
Der Liebling der Kamönen.
 
1996 
Es ist die Leier, worauf er einst
1997 
Den Paisteteros besungen,
1998 
Der um die Basileia gefreit,
1999 
Mit ihr sich emporgeschwungen.
 
2000 
Im letzten Kapitel hab ich versucht,
2001 
Ein bißchen nachzuahmen
2002 
Den Schluß der "Vögel", die sind gewiß
2003 
Das beste von Vaters Dramen.
 
2004 
Die "Frösche" sind auch vortrefflich.
2005 
Man gibt In deutscher Übersetzung
2006 
Sie jetzt auf der Bühne von Berlin,
2007 
Zu königlicher Ergetzung.
 
2008 
Der König liebt das Stück. Das zeugt
2009 
Von gutem antiken Geschmacke;
2010 
Den Alten amüsierte weit mehr
2011 
Modernes Froschgequacke.
 
2012 
Der König liebt das Stück. Jedoch
2013 
Wär noch der Autor am Leben,
2014 
Ich riete ihm nicht, sich in Person
2015 
Nach Preußen zu begeben.
 
2016 
Dem wirklichen Aristophanes,
2017 
Dem ginge es schlecht, dem Armen;
2018 
Wir würden ihn bald begleitet sehn
2019 
Mit Chören von Gendarmen.
 
2020 
Der Pöbel bekäm die Erlaubnis bald,
2021 
Zu schimpfen statt zu wedeln;
2022 
Die Polizei erhielte Befehl,
2023 
Zu fahnden auf den Edeln.
 
2024 
O König! Ich meine es gut mit dir,
2025 
Und will einen Rat dir geben:
2026 
Die toten Dichter, verehre sie nur,
2027 
Doch schone, die da leben.
 
2028 
Beleid'ge lebendige Dichter nicht,
2029 
Sie haben Flammen und Waffen,
2030 
Die furchtbarer sind als Jovis Blitz,
2031 
Den ja der Poet erschaffen.
 
2032 
Beleid'ge die Götter, die alten und neu'n,
2033 
Des ganzen Olymps Gelichter,
2034 
Und den höchsten Jehova obendrein -
2035 
Beleid'ge nur nicht den Dichter!
 
2036 
Die Götter bestrafen freilich sehr hart
2037 
Des Menschen Missetaten,
2038 
Das Höllenfeuer ist ziemlich heiß,
2039 
Dort muß man schmoren und braten -
 
2040 
Doch Heilige gibt es, die aus der Glut
2041 
Losbeten den Sünder; durch Spenden
2042 
An Kirchen und Seelenmessen wird
2043 
Erworben ein hohes Verwenden.
 
2044 
Und am Ende der Tage kommt Christus herab
2045 
Und bricht die Pforten der Hölle;
2046 
Und hält er auch ein strenges Gericht,
2047 
Entschlüpfen wird mancher Geselle.
 
2048 
Doch gibt es Höllen, aus deren Haft
2049 
Unmöglich jede Befreiung;
2050 
Hier hilft kein Beten, ohnmächtig ist hier
2051 
Des Welterlösers Verzeihung.
 
2052 
Kennst du die Hölle des Dante nicht,
2053 
Die schrecklichen Terzetten?
2054 
Wen da der Dichter hineingesperrt,
2055 
Den kann kein Gott mehr retten -
 
2056 
Kein Gott, kein Heiland erlöst ihn je
2057 
Aus diesen singenden Flammen!
2058 
Nimm dich in acht, daß wir dich nicht
2059 
Zu solcher Hölle verdammen.

Details zum Gedicht „Deutschland. Ein Wintermärchen“

Anzahl Strophen
535
Anzahl Verse
2059
Anzahl Wörter
10895
Entstehungsjahr
1797 - 1856
Epoche
Junges Deutschland & Vormärz

Gedicht-Analyse

Der Autor des Gedichtes „Deutschland. Ein Wintermärchen“ ist Heinrich Heine. Im Jahr 1797 wurde Heine in Düsseldorf geboren. Im Zeitraum zwischen 1813 und 1856 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her der Epoche Junges Deutschland & Vormärz zuordnen. Bei Heine handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das 10895 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 2059 Versen mit insgesamt 535 Strophen. Weitere Werke des Dichters Heinrich Heine sind „Abenddämmerung“, „Ach, die Augen sind es wieder“ und „Ach, ich sehne mich nach Thränen“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Deutschland. Ein Wintermärchen“ weitere 535 Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Fertige Biographien und Interpretationen, Analysen oder Zusammenfassungen zu Werken des Autors Heinrich Heine

Wir haben in unserem Hausaufgaben- und Referate-Archiv weitere Informationen zu Heinrich Heine und seinem Gedicht „Deutschland. Ein Wintermärchen“ zusammengestellt. Diese Dokumente könnten Dich interessieren.

Weitere Gedichte des Autors Heinrich Heine (Infos zum Autor)

Zum Autor Heinrich Heine sind auf abi-pur.de 535 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.