Goethe und Tasso von Otto Ernst

So wird sich wieder denn der Vorhang heben
Vor Belriguardos lorbeerstillen Gärten,
Wo zarte Frau’n Gedankenkränze winden
Und alle Schönheit ahndevoll umfangen,
Ein edler Fürst die Kunst beschützt, weil er
Nicht Regeln ihr, nein, Recht und Freiheit gibt,
Nicht Ketten, sondern Flügel ihr verleiht,
Und wo in Sonnenglanz und Myrtendüften
Torquato Tassos traurige Geschichte
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Sich zuträgt, der mit traumgeschwellten Segeln
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Gescheitert einst am starren Fels des Lebens –
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Um ihn in höchster Not doch zu umklammern.
 
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Des unglücksel’gen Sängers Schicksal hat
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Ein glücklicherer Genius uns gesungen.
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Und war er glücklicher? Nahm ihm das Schicksal
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Nicht nur die äuß’re Bürde von den Schultern,
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Daß tiefer er den inn’ren Schmerz empfinde?
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O glaubt: er hat das eigne Leid gesungen
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In Tassos Schmerzen! Ach, in süßen Worten
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Hat laue Kälte ihn, wie oft, gekränkt,
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Gefrorner Neid mit scharfen Eisesnadeln
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Sein Herz verletzt wie oft! Doch Qual vor allem
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Ist gottgeborner Seelen tiefster Drang:
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Der Dichtung Traum dem Leben zu versöhnen!
 
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Ach, all ihr Leben ist ein schmerzlich Fragen:
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Warum ward unter Seligen ich geboren,
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Wenn unter Menschen ich mein Leben lang
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die Heimat suchen soll? –
 
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Allein er suchte
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Und suchte mit dem treusten Menschenherzen
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Geruhige Wohnstatt unter seinen Brüdern.
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Denn Mensch war er, und unter Menschen wollt’ er
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In Liebe wohnen. Und im Angesichte,
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Im ungeheuren Rätselangesichte
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Des Lebens forscht’ er Tag für Tag und Stunde
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Für Stunde. Und war seelentief beglückt,
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Wenn aus des Lebens dunklem Auge ihn
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Ein heimlich, heilig Wissen überdrang.
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Da weckte solch ein Licht in seinem Busen
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Das große Feuer seines Herzens auf,
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Und seine Kunst, in goldnen Flammen sang sie
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Ein selig Wissen uns vom harten Leben.
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Ja, glücklich war er! Seine Stirn berührte
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Das Heldenglück des Lebensüberwinders –
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Das Glück, das einst Ferraras armer Sänger
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Mit irrem Flügelschlag umsonst gesucht.
 
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Und wir, vereint in seinem großen Namen,
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O suchten wir ein gleiches Glück und fänden’s!
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Noch fliehen irrend Leben sich und Lied.
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Des Lebens Helle suchte einst die Kunst
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Und zagte feigen Blicks vor seinen Nächten –
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In seines Dunkels Schrecken drang sie vor
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Und haßte lichtvergess'nen Aug’s die Sonne –
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Vergessen und verloren hatte sie
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Das Werk des großen Schöpfers aller Dinge,
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Das Lied des Weltendichters: Tag und Nacht.
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Und da sie’s endlich wiederfindet, jubelnd
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Die Arme breitet nach des Lebens Fülle –
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Verwehrt sich ihr das Leben streng und kalt.
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Nicht will’s mit ihr des Lorbeers Schatten teilen,
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Den trauten Namen „Freundin“ ihr nicht gönnen,
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Wehrt ihr den Thron, den ihr Natur errichtet
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Zur Seite des Gedankens und der Sitte,
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Und spricht voll Hochmut dröhnende Gesetze:
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„Du sollst!“ und „Du sollst nicht! Weil mir’s beliebt!“
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Ach, nicht von edler Frauen roter Lippe,
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Nein, von des Eif’rers zorngesträubtem Munde,
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Von Pharisäer- und Pedantenlippen
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Gellt nun der Ruf: „Erlaubt ist, was sich ziemt!“
 
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Versöhnung unser Werk! Es kam der Frühling;
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Goldregen hängt herab aus leichten Lüften,
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Und aus der Tiefe steigt die Lilie auf,
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Demselben Schoße beide sie entsprungen.
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O, daß dereinst in einem neuen Frühling
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Entgegenwüchsen Leben sich und Lied,
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In Mutterarmen der Natur versöhnt!
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Wohl käme dann ach Tassos „goldne Zeit“!
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Um Zeitenstrom hinwandelten sie beide,
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Die Kunst, das Leben, Aug’ in Aug’ versunken
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Im starken Frieden spät erkannter Liebe.
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Nicht mehr begehrte eines, was das andre
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Nicht willig aus verwandtem Trieb gewährt.
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So führend wie geführt frohlockten beide
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Dem lichtumkränzten Ziel der Ströme zu,
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Und im Geriesel warmer Sonnenfluten
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Und im verborgnen Silberklang der Quellen,
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Im rauschenden Gesang aus Busch und Bäumen
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Bewegte das Erlösungswort die Welt,
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Das selige Wort: „Erlaubt ist, was gefällt!“
 
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*) Als Prolog gesprochen bei einer Tasso-Aufführung vor dem Hamburger Goethebund.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (32.4 KB)

Details zum Gedicht „Goethe und Tasso“

Autor
Otto Ernst
Anzahl Strophen
7
Anzahl Verse
90
Anzahl Wörter
596
Entstehungsjahr
1907
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Goethe und Tasso“ wurde von Otto Ernst geschrieben, der von 1862-1926 lebte und daher dem Realismus in der deutschen Literatur zuzuordnen ist.

Auf den ersten Blick teilt sich das Gedicht in sieben Strophen unterschiedlicher Länge auf. Der sprachliche Stil und die Struktur sind pathetisch und monumental, was viele Interpretationsansätze ermöglicht. Thematisiert wird die Verbindung zwischen der Kunst, repräsentiert durch die Dichter Goethe und Tasso, und dem Leben.

Die erste Strophe wird geprägt durch die Gedanken von Tasso, seine Einschränkungen und Freiheiten, die er in seiner Kunst verspürt. Dargestellt wird Tasso als ein in der Schönheit der Natur und der Kunst Gebundener, der jedoch mit dem Leben selbst zu kämpfen hat.

In der zweiten Strophe etabliert der Verfasser eine Verbindung zwischen Tasso und Goethe. Diese Verbindung weist auf Parallelen in den Schicksalen der beiden hin. Laut Ernst erlebten beide Dichter zwar unterschiedliche Schicksale, äußerlich war Goethe erfolgreicher, doch beide hatten innere Schmerzen und fühlten sich von der Welt missverstanden.

In den folgenden Strophen wird vertieft, wie beide Dichter mit den Erfahrungen im Leben umgehen. Goethe wird dargestellt als eine Suchende, immer auf der Suche nach einer Heimat unter den Menschen. Wobei jedoch betont wird, dass seine Forschung und Erfahrung im Leben ihm tiefe Glücksmomente verschafft.

Ab der fünften Strophe spricht der lyrische Sprecher direkt zum Leser und appelliert, sich in der Kunst nach ähnlichem Glück wie Goethe zu suchen. Er sieht die Kunst als Brücke, die das Leben wieder entdeckt und kritisiert gleichzeitig die Unterdrückung der Kunst durch Kunsthasser, Möchtegernkritiker und engstirnige Menschen.

In der vorletzten Strophe schlägt der Ton optimistisch um, indem er einen Traum einer neuen Frühling (Vertreter der energetisch aufgeladenen und optimistischen Zukunft) beschreibt, in dem alle Verbindungen zwischen Leben und Kunst hergestellt werden, und jene Einschränkungen und Barrieren, die in vorherigen Strophen hervorgehoben wurden, verschwunden sein werden.

Die letzte Strophe ist lediglich eine Erläuterung, dass das Gedicht einst als Prolog vor einer „Tasso-Aufführung vor dem Hamburger Goethebund“ gesprochen wurde.

Bezogen auf die Form und Sprache des Gedichts, bemerken wir, dass das Gedicht in freien Versen ohne auffälligen Reim oder Metrik geschrieben ist, was der Ernsthaftigkeit und Schwermut des Themas entspricht. Die Sprache ist stilvoll, reich an Metaphern und Anspielungen, die den einfühlsamen und anerkennenden Ton des lyrischen Ichs gegenüber Goethe und Tasso unterstreichen. Hier dominiert die hohe Sprache, die sich in einer Vielzahl von literarischen Figuren niederschlägt, was wiederum die hochtrabende Haltung des lyrischen Ichs widerspiegelt. Es zeigt eine starke emotionale Bindung zum Thema und nutzt die natürliche Welt und ihre Phänomene als Methapher für das menschliche Dasein und seine inneren Kämpfe.

Zusammengefasst zeigt „Goethe und Tasso“ Otto Ernsts tiefe Beziehung zur Kunst und wie sie mit dem Leben verknüpft ist – eine Verbindung, die sowohl individuelles Leid als auch universellen Trost beinhaltet.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Goethe und Tasso“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Otto Ernst. Geboren wurde Ernst im Jahr 1862 in Ottensen bei Hamburg. Das Gedicht ist im Jahr 1907 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Leipzig. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei Verwendung der Angaben zur Epoche prüfe bitte die Richtigkeit der Zuordnung. Die Auswahl der Epoche ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen und muss daher nicht unbedingt richtig sein. Das 596 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 90 Versen mit insgesamt 7 Strophen. Die Gedichte „Aus einer Nacht“, „Ausflug“ und „Blühendes Glück“ sind weitere Werke des Autors Otto Ernst. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Goethe und Tasso“ weitere 64 Gedichte vor.

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