Genuß des Vergangnen von Samuel Gottlieb Bürde

Gekrümmter schleicht ihr schon am Wanderstahe,
Und klagt des Lebens sinkenden Ruin:
Ha, statt zu klagen, nutzt die gute Gabe,
Die uns zum Trost des Himmels Gunst verliehn; –
Den Talisman, durch den, mit schnellern Flügeln
Als Schall und Licht, die Seele rückwärts eilt,
Und auf der Jugend reichbeblümten Hügeln
Im milden Strahl der Morgensonne weilt! –
 
O Phantasie! du bist’s, die, trotz der Schwere
10 
Des trägen Körpers, Geisterschnell uns macht;
11 
Ach, ohne dich wär’ in des Daseyns Sphäre
12 
Ein Lichtpunct nur, und rings um tiefe Nacht.
13 
Von dir beleuchtet glänzt in sanfter Helle,
14 
Vergangenheit, wie die bethaute Flur
15 
Im Mondschein, wie auf dunkler Meereswelle
16 
Weit hinterm Schiff die langgefurchte Spur.
 
17 
Wem dieß Geschenk ein guter Gott beschieden,
18 
Der leidet nie der langen Weile Pein;
19 
Mag ihn sein Loos in enge Fesseln schmieden,
20 
Er fühlt sich frey und reich – die Welt ist sein!
21 
Er weiß in sich den Harfenton zu wecken,
22 
Der schnell des Unmuths bösen Geist verjagt,
23 
Und in der Täuschung süßem Traum zu schmecken,
24 
Was Wirklichkeit dem Wachenden versagt.
25 
Nichts kann die Zeit, nichts ihm der Tod entziehen;
26 
Er schwingt mit mächt’ger Hand den Zauberstab,
27 
Und längst verwelkte Paradiese blühen
28 
Ihm schöner auf; ihm öffnet sich das Grab,
29 
Er steigt hinab ins stille Land der Schatten,
30 
Und sich, es kehrt, errungen vom Geschick,
31 
Eurydice, am Arm des treuen Gatten,
32 
Von Lethens Strand ans goldne Licht zurück.
33 
BUERDE.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.6 KB)

Details zum Gedicht „Genuß des Vergangnen“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
33
Anzahl Wörter
229
Entstehungsjahr
1799
Epoche
Klassik,
Romantik

Gedicht-Analyse

Das Gedicht ist von Samuel Gottlieb Bürde, einem deutschen Schriftsteller und Juristen, der in der Zeit der Aufklärung lebte. Daher kann das Gedicht in etwa in diese Epoche eingeordnet werden.

Der erste Eindruck des Gedichts vermittelt einen melancholischen, aber gleichzeitig auch tröstlichen Ausdruck des Alterns und des Rückblicks auf das vergangene Leben. Das lyrische Ich fordert uns auf, potenzielle Verluste und Enttäuschungen des Alters mit Hilfe der Erinnerungen und Fantasien aus der Jugend zu überwinden.

Bürde spricht hier von dem Wert der Erinnerung, und wie diese uns in dunklen Zeiten Trost spenden kann. Er stellt die Phantasie als kostbare Gabe dar, die uns die Möglichkeit gibt, in der Vergangenheit zu schwelgen und uns von negativen Gefühlen zu lösen.

Im letzten Auszug des Gedichts wird das Thema der Unvergänglichkeit ausgearbeitet. Hier beschreibt das lyrische Ich, dass weder Zeit noch Tod irgendetwas von der erinnerten Vergangenheit nehmen können. Dies ist eine sehr tröstliche und hoffnungsvolle Perspektive auf das Leben und den Tod. Die Anspielung auf die mythologische Erzählung von Orpheus und Eurydice unterstreicht diese Botschaft.

Die Form des Gedichts ist klassisch in Strophen organisiert, wobei jede Strophe eine verschiedene Anzahl an Versen hat. Die dichterische Sprache ist archaisch und formell, was zu Bürdes Schreibzeit typisch war. Die Verwendung von Metaphern, wie zum Beispiel die zum Phantasie „Talisman“ oder die „Harfe“ die den „bösen Geist“ vertreibt, bereichert das Gedicht und macht es zu einem kreativen und poetischen Werk. Besonders bemerkenswert ist, wie Bürde das Konzept der Erinnerung als eine Quelle der Freude und des Trostes hervorhebt, trotz der Begrenzungen des Alters und der Vergänglichkeit des Lebens.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Genuß des Vergangnen“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Samuel Gottlieb Bürde. 1753 wurde Bürde in Breslau geboren. Im Jahr 1799 ist das Gedicht entstanden. Tübingen ist der Erscheinungsort des Textes. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Klassik oder Romantik zuordnen. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das vorliegende Gedicht umfasst 229 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 33 Versen. Ein weiteres Werk des Dichters Samuel Gottlieb Bürde ist „Die Ueberraschung“. Zum Autor des Gedichtes „Genuß des Vergangnen“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de keine weiteren Gedichte vor.

+ Wie analysiere ich ein Gedicht?

Daten werden aufbereitet

Weitere Gedichte des Autors Samuel Gottlieb Bürde (Infos zum Autor)