Geist der Zeit von Rudolf Lavant

Sie stiegen auf aus ew’ger Nacht, aus Kohlenstaub und gift’gen Schwaden,
Sie stiegen auf aus tiefem Schacht, wo schaffend sie in Schweiß sich baden,
Doch nicht, um schon nach kurzer Rast die Haue wiederum zu schwingen,
Um unermüdlich Last auf Last empor ans goldne Licht zu bringen,
Denn trotzig, finster, ohne Wort zog Jeder heim zu seinem Herde,
Er wußte gut, daß er „vor Ort“ so bald nicht wieder stehen werde.
Daß er für den geringen Lohn gesprengt, gehauen und gegraben
So viele schwere Jahre schon – das sollte nun ein Ende haben,
Und wenn kein günstig, willig Ohr das Fordern der Gedrückten fände,
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Dann ruhten, wie noch nie zuvor, mit einem Schlag viel tausend Hände,
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Dann sank im mächtigen Bereich, in dem die Förderkörbe steigen,
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Auf jedes Kohlenwerk zugleich die Todtenstille und das Schweigen;
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Und Alle, Alle einig sind, sie wollen lieber müßig lungern,
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Und sollten sie mit Weib und Kind elendiglich dabei verhungern.
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Und also kam’s; im Schachte rann kein saurer Tropfen edlen Schweißes,
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Des Schweigens und des Todes Bann lag auf den Stätten rüst’gen Fleißes,
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Und staunend und ergriffen fand man heldenmüthig dieses Ringen,
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Sah einen bitterarmen Stand man unerhörte Opfer bringen.
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Und als der Trotz der Werke brach, weil obgesiegt der Arbeit Schaaren,
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Das Unrecht platt am Boden lag, da pries man, die im Rechte waren.
 
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Sie standen vor dem Mastenwald, der an die Docks herangeschwommen,
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Sie haben finster, spöttisch bald, die Reih’n in Augenschein genommen,
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Doch Keiner regte seinen Arm und Keiner straffte seine Sehnen,
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Man sah der starken Männer Schwarm stumm an den Brüstungsgittern lehnen,
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Und sie, gewohnt, ein Stundenlohn im Flug begierig zu erhaschen,
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Sie standen viele Tage schon, die Hände trotzig in den Taschen.
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Der Armen Aermste, Bettler nur am reichbesetzten Tisch des Lebens,
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Was war’s, das plötzlich in sie fuhr, gleich einem Blitz, und nicht vergebens?
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Das war ja die Elite nicht der Workingmen, geschult in Kämpfen,
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Gewohnt, in Reihen tief und dicht den Uebergriff der Herrn zu dämpfen;
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Das war der tiefste Bodensatz, aus dem wir ohne Ende schöpfen,
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Denn wir – wie ist das Wort am Platz! – nach „Händen“ zählen, nicht nach Köpfen.
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Und nun der Trotz, der gleiche Geist in jeder Stirn, in jedem Herzen,
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Die Klarheit, die sich Ziele weist durch Elend, Hunger, Noth und Schmerzen?
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Den ersten Keim, den schwachen Kern des Widerstands galt’s zu zertreten,
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Wie sollten fürder sonst die Herrn zu jeder Form die Masse kneten?
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Und doch, sie litten stumm und groß, sie hungerten und darbten stoisch,
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Sie kämpften für ein menschlich Loos bewußt, besonnen und heroisch,
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Und als nach Jammer, Krampf und Schmerz sie obgesiegt in gutem Streite,
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Da war in England jedes Herz, das nicht von Stein, auf ihrer Seite.
 
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Und nun, ihr Herrn am grünen Tisch, wer hat die „Streiks“ nun „angestiftet,“
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Wer hat, bei Braten und bei Fisch prassend, des Volks Gemüth „vergiftet,“
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Wer hat, die ihr doch Alles wißt, gedroht, versprochen und gebettelt,
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Wer hat mit schnöder Hinterlist heimlich das Alles angezettelt?
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Ihr habt doch Spitzel, wie man sagt, und reichlich werden sie besoldet,
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Die Ehre, die der Rost benagt, wird unermüdlich neu vergoldet;
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Hat Keiner von der heil’gen Schaar den Namen dessen euch verrathen,
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Der alles Uebels Vater war, des ränkelust’gen Demokraten?
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Wo steckt, der in Bewegung setzt mit einem Wink die träge Masse,
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Der unverdrossen schürt und hetzt, bis auf sie flammt in düstrem Hasse?
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Ihr schweigt? Ihr kennt ihn selber nicht, ihr, die ihr Alles wissen müßtet –
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Er kam euch diesmal nicht in Sicht, so sehr euch auch danach gelüstet.
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Was dieser Männer Brust durchloht mit Kampfesernst, der bar des Neides,
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Das war die grimme nackte Noth, das war das Uebermaß des Leides;
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Die Stöße, die euch aufgeschreckt, sie kamen aus den tiefsten Tiefen,
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Die unerreicht und ungeweckt bisher in fahlem Dämmern schliefen,
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Und was an ihnen drohend war, was euch am Innersten gerüttelt –
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Sie waren ur-elementar, wie wenn ein Krampf den Erdball schüttelt.
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Da halten keine Floskeln Stich, – in diesen Streiks, die sie gewonnen,
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Hat unsre tiefste Armuth sich blitzähnlich auf sich selbst besonnen!

Details zum Gedicht „Geist der Zeit“

Anzahl Strophen
3
Anzahl Verse
62
Anzahl Wörter
677
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Geist der Zeit“ stammt von dem Autor Rudolf Lavant, der von 1844 bis 1915 lebte und somit in die Epoche der Spätaufklärung und des Biedermeier bis hin zur Jahrhundertwende und der Moderne einzuordnen ist.

Beim ersten Lesen fällt die deutliche soziale und gesellschaftliche Thematik auf. Das lyrische Ich scheint vom Arbeiterstand zu sprechen, deren schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen sie schließlich zum Aufstand bewegen.

Im ersten Teil des Gedichts wird die Grunderfahrung der Arbeiter dargestellt: Sie arbeiten im Bergbau, schuften schwer und erhalten dafür nur geringen Lohn. Sie erkennen jedoch, dass sie in der Lage sind, ihre Situation zu ändern. Sie organisieren einen Streik, der schließlich erfolgreich ist und ihre Lage verbessert.

Der zweite Teil handelt von Dockarbeitern, die ebenfalls in schwierigen Umständen leben. Auch sie beschließen, zu streiken und finden schließlich Anerkennung für ihre Bemühungen.

Im dritten Teil wird die Perspektive der reichen Elite dargestellt. Sie versuchen, auf verschiedene Weise, den Streik zu stoppen oder zu untergraben, sind aber letzten Endes nicht erfolgreich.

Form und Sprache des Gedichts sind komplex und metaphorisch. Es wird ein iambischer Versmaß verwendet und das Reimschema weist auf einen gekreuzten Reim hin. Die Sprache ist sehr bildgewaltig und eindringlich, nutzt Vergleiche und Metaphern und zielt darauf ab, Sympathie und Verständnis für die Arbeiter zu wecken.

Insgesamt scheint das lyrische Ich also zu sagen, dass es trotz der schweren Arbeitsbedingungen und der geringen Bezahlung möglich ist, durch Zusammenarbeit und Solidarität Veränderungen herbeizuführen und die eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Das Gedicht ist somit eine Art Appell und Aufforderung zur Eigeninitiative und Solidarität unter den Arbeitern.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Geist der Zeit“ ist Rudolf Lavant. Im Jahr 1844 wurde Lavant in Leipzig geboren. Im Jahr 1893 ist das Gedicht entstanden. Erschienen ist der Text in Stuttgart. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Naturalismus oder Moderne zugeordnet werden. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das vorliegende Gedicht umfasst 677 Wörter. Es baut sich aus 3 Strophen auf und besteht aus 62 Versen. Der Dichter Rudolf Lavant ist auch der Autor für Gedichte wie „An la belle France.“, „Bekenntnis“ und „Das Jahr“. Zum Autor des Gedichtes „Geist der Zeit“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 96 Gedichte vor.

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