Gegenwart und Zukunft von Rudolf Lavant

Mit Waffenklirren und mit Völkerstreit
Und Ränkespiel erfüllen sie die Zeit,
Mit stetem Hader um des Nachbars Habe,
Und jeder wähnt, daß, wenn er einst entschlief,
In ihre Tafeln die Geschichte tief
Mit ehr’nem Griffel seinen Namen grabe.
 
Doch die Geschichte hat für solchen Wahn
Ein bittres Lächeln nur – die Lebensbahn
Der Stolzen führt in Nebel und Vergessen.
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Ein Monument sogar von Erz und Stein
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Kann sie nicht schützen, denn wie sind sie klein,
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Wenn man an wahrhaft Großem sie gemessen!
 
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Nein, die Geschichte hält beim Lebenslauf,
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Bei den Intriguen derer sich nicht auf,
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Die der Poeten Sippe angeleyert;
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Doch stützt die Stirn sie lange in die Hand
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Wenn sie verzeichnet, daß in jedem Land
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An einem Tag der Arbeit Volk gefeiert.
 
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Vor solchem Schauspiel macht sie sinnend Halt;
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Es packt sie mit bezwingender Gewalt,
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Und zu verstehen es, ist ihr Bestreben.
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Sie fragt: Und mußte der Gesellschaft Bau,
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Der morsch geworden längst und altersgrau
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Nicht ahnungsvoll in allen Fugen beben?
 
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Jawohl, er hat gebebt – ein Zittern tief,
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Ein dumpfes Schüttern und Erbeben lief
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Vom Grund zum Dach durch’s bröckelnde Gemäuer;
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Jawohl, die Wissenden in der Gewalt
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Hat es durchschauert ahnungsvoll und kalt
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Bei dieser schlichten, imposanten Feier.
 
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Wohl war es stolze, ungewohnte Schau!
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Die Lande alle zwischen Trent und Drau,
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Was zwischen Ebro liegt und den Fjorden,
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Durchlief der Mahnruf und man fragte nicht,
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In welcher Sprache wohl der Bruder spricht
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Und ganz Europa war ein Reich geworden.
 
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Der Haß ist nicht die Mauer, die er scheint,
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Wenn lang Verfeindete in Frieden eint
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Ein Hochgefühl, ein führender Gedanke,
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Wenn dem Vertrauen die Verblendung weicht
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Und brüderlich die Hand dem Pommer reicht
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Von der Garonne Weingeländ’ der Franke.
 
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Und der Gedanke, der sie all’ erfaßt:
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„Acht Stunden Arbeitszeit, acht Stunden Rast,
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Acht Stunden Schlaf bedingt ein Menschenleben!“ –
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Er mag euch noch so sehr zuwider sein –
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Ihr lullt und schläfert nie ihn wieder ein,
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Und diesen Riß wird keine Kunst verkleben.
 
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Und ob’s euch grimmen und verdrießen mag –
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Wir feiern fort den schönen Maientag,
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Bis ihr erfüllt, was unser Recht auf Erden;
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Bis ihr der Pflicht der Menschlichkeit genügt,
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Bis ihr euch dieser Forderung gefügt,
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Wird sie gestellt vor ganz Europa werden.
 
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Und ist erstritten trotz der Gegenwehr
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Von Fels zu Fels zuletzt, von Meer zu Meer,
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Was wir erbitten nicht, was wir verlangen,
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Und athmet auf das seufzende Geschlecht,
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Dann wird in tiefem Dankgefühl erst recht
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Der erste Mai als Feiertag begangen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29.4 KB)

Details zum Gedicht „Gegenwart und Zukunft“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
60
Anzahl Wörter
405
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Gegenwart und Zukunft“ wurde von Rudolf Lavant, einem deutschen Schriftsteller und Rothschild aus Thüringen, geschrieben. Er lebte von 1844 bis 1915, daher kann das Gedicht in die Epoche des Spätrealismus in Deutschland eingeordnet werden, eine Periode die durch Industrialisierung, soziale Fragen und politischen Wandel geprägt war.

Beim ersten Lesen fällt die politisch und gesellschaftlich kritische Ausrichtung des Gedichts auf. Lavant problematisiert den Missbrauch von Macht und den Materialismus, verworfen wird das Streben einzelner nach Ruhm und Reichtum und hervorgehoben wird der Gedanke der Brüderlichkeit und Gleichheit, besonders hervorgehoben durch das Ideal der „Acht Stunden Arbeitszeit, acht Stunden Rast, acht Stunden Schlaf“, als Bedingung eines würdigen und fairen Menschenlebens.

Das lyrische Ich kritisiert im Gedicht die Streitigkeiten und Machtkämpfe, die die Menschheit von wichtigeren und bedeutsameren Zielsetzungen ablenken. Durch Gier und kriegerische Auseinandersetzungen, so schreibt Lavant, schaden wir uns nur selbst und lassen die wahren Prioritäten und Bedeutungen des Lebens aus den Augen. Es drängt auf die Befolgung der Maxime der Gleichheit und Brüderlichkeit und glaubt, dass dies zu einer gerechteren und harmonischeren Gesellschaft führen wird. Lavant endet mit einer Hoffnung: Sollte das Ideal der Gleichheit und Harmonie erreicht werden, sollte jeder die gleichen Rechte und die gleiche Behandlung genießen, dann wird der erste Mai erst richtig als Feiertag begangen – als Tag der Arbeit und des sozialen Fortschritts.

Das Gedicht besteht aus zehn gleich aufgebauten Strophen mit je sechs Versen, was zur Hervorhebung des Inhalts und zur Betonung seiner stetigen Wiederholung beiträgt. Die Sprache des Gedichts ist klar und deutlich gehalten, ohne allzu viele metaphorische Sprachbilder zu verwenden, was auf die Intention Lavants hindeutet, seine Botschaft möglichst deutlich und unmissverständlich zu übermitteln.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Rudolf Lavants Gedicht „Gegenwart und Zukunft“ eine kritische und soziale Beschreibung der damaligen Gesellschaft ist, in dem er die Diskrepanz zwischen den herrschenden Machthabern und der leidenden Arbeiterschaft beschreibt. Das Gedicht ist außerdem eine Hommage an den ersten Mai, den Tag der Arbeit, und sein Ruf nach Gleichheit und Brüderlichkeit deuten auf die Dringlichkeit des sozialen Wandels hin, der zu seiner Zeit notwendig war und auch heute noch aktuell bleibt.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Gegenwart und Zukunft“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Rudolf Lavant. Geboren wurde Lavant im Jahr 1844 in Leipzig. Das Gedicht ist im Jahr 1893 entstanden. Erschienen ist der Text in Stuttgart. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Naturalismus oder Moderne kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben zur Epoche bei Verwendung. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Das Gedicht besteht aus 60 Versen mit insgesamt 10 Strophen und umfasst dabei 405 Worte. Rudolf Lavant ist auch der Autor für Gedichte wie „An unsere Feinde“, „An unsere Gegner“ und „An la belle France.“. Zum Autor des Gedichtes „Gegenwart und Zukunft“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 96 Gedichte vor.

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