Gebet der Sättigung von Richard Dehmel

Nun verging der Stern der Frühe,
meine Augenlider brennen;
und die Sonne kann mit Mühe
die gefrornen Nebel trennen.
 
Mich verdrießt mein nächtlich Brüten;
drüben an den Häuserwänden
sprießen diamantne Blüten.
Meine Prüfung kann nun enden! –
 
Dieser Keller: dumpfer Zwinger!
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Auf die dunstbelaufnen Scheiben
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will ich breit mit steifem Finger
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VENUS REDIVIVA schreiben!
 
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Denn ich weiß, du bist Astarte,
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deren wir in Ketten spotten,
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du von Anbeginn, du harte
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Göttin, die nicht auszurotten.
 
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Aber Ich war weich wie glühend Eisen;
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darum sollst du mich in Wasser tauchen,
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bis mein Wille läßt sein siedendes Kreisen
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und der Stahl wird, den wir brauchen.
 
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Nicht mehr will ich meine Brunst kasteien,
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die dann mit berauschter Durstgeberde
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wünscht, daß unsre Lüste fruchtbar seien
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und ein Wurm zur Göttin werde.
 
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Nach der Nacht der blinden Süchte
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seh ich nun mit klaren bloßen
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Augen meine Willensfrüchte;
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denn ich bin wie jene großen
 
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Tagraubvögel, die zum Fliegen
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sich nur schwer vom Boden heben,
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aber, wenn sie aufgestiegen,
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frei und leicht und sicher schweben.
 
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Glitzernd winkt mein Horst, – Du Eine,
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die ich liebe: Ja und Amen:
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heute komm ich! heut soll meine
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Klarheit Deinen Schooß besamen!
 
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Schon errötet dort der Giebel;
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Sonne, mach ein bischen schneller!
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„Schuster – bring mir meine Stiebel,
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heut verlass’ich deinen Keller!“
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.8 KB)

Details zum Gedicht „Gebet der Sättigung“

Anzahl Strophen
10
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
208
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Gebet der Sättigung“ stammt vom Autor Richard Dehmel, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lebte. Dies plaziert das Gedicht in den Kontext der literarischen Bewegungen dieser Zeit, insbesondere des Symbolismus und des Naturalismus.

Auf den ersten Blick präsentiert das Gedicht ein lyrisches Ich, das in einem Zustand der Erschöpfung und Verdrossenheit mit seiner derzeitigen Umgebung ist. Es gibt eine Betonung des Morgens oder des Frühlichts und des Wechsels von Dunkelheit zu Licht, was oft symbolisch für eine Art von Erneuerung oder Wiedergeburt steht.

Inhaltlich scheint das Gedicht die innere Reise des lyrischen Ichs darzustellen, die von einer Phase der Dunkelheit und Erschöpfung zu einem Zustand der Erleuchtung und Wiedergeburt führt. Das lyrische Ich drückt Verzweiflung und Unzufriedenheit in Bezug auf seinen derzeitigen Zustand aus (Vers 9 - 12), bevor es einen Wandel und ein Erwachen zu stärker, leuchtender Klarheit und Entschlossenheit erlebt (Vers 17 - 20). Es findet eine Akzeptanz und Umarmung seiner tiefsten Wünsche und Leidenschaften (Vers 21 - 24), bevor es schließlich Ankündigungen macht, die seine neu entdeckte Klarheit und Selbstbewusstsein bekunden (Vers 33 - 36 und 39 - 40).

In Bezug auf die Form und die Sprache des Gedichts besteht es aus zehn Strophen mit je vier Versen. Die Sprache ist bildreich und metaphorisch, mit Anspielungen auf Eisen und Stahl, was eine Überarbeitung und Veränderung des lyrischen Ichs vermuten lässt. Es finden sich zudem mythologische Bezüge (Vers 12 und 13), die die tiefere spirituelle und psychologische Reise des lyrischen Ichs anspielen könnten. Auch gibt es eine gewisse Dramatik und Direktheit in der Sprache, die auf eine intensive Selbstbegegnung und Selbsttransformation hindeutet.

Zusammengefasst könnte man interpretieren, dass „Gebet der Sättigung“ die persönliche Reise des lyrischen Ichs von Dunkelheit zu Licht, von Erstickung zu Freiheit und von Unzufriedenheit zu Selbsterkenntnis und Veränderung darstellt. Dabei nutzt Dehmel bildhafte und teils drastische Sprache, um diese innere Transformation zu veranschaulichen.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Gebet der Sättigung“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. 1863 wurde Dehmel in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. 1893 ist das Gedicht entstanden. In München ist der Text erschienen. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Bei dem Schriftsteller Dehmel handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 208 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 40 Versen. Die Gedichte „Auf der Reise“, „Aufblick“ und „Ballade vom Volk“ sind weitere Werke des Autors Richard Dehmel. Zum Autor des Gedichtes „Gebet der Sättigung“ haben wir auf abi-pur.de weitere 522 Gedichte veröffentlicht.

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