Gebet der Sucht von Richard Dehmel

Niemals sah ich die Nacht beglänzter,
diamantisch reizen die Fernen;
durch mein staubiges Kellerfenster
sticht der Schein der Gaslaternen,
 
schielt auf meine frierenden Hände,
und ich fühle meinen Hunger;
grau sind diese nackten Wände,
und sie flimmern. Und mein junger
 
irrender Wille kann sich nicht mehr täuschen
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unsre Lüste wollen fruchtbar sein!
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Mit den Schatten meiner keuschen
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Kammer spielt ein schwüler Schein.
 
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An den hohen Häusern drüben glühen
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aus der Finsternis die Fenster,
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wo die Freudenmädchen blühen –
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niemals sah ich die Nacht beglänzter!
 
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Und die Sterne sind wie brennende Blicke,
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Welten sehnen sich nach mir!
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Ich verschmachte. Ich ersticke.
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Ja: ich frevelte an Ihr!
 
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Selbst in meiner kalten Zelle
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fühlte ich das Leben toben,
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der ich wagte, dieses schnelle
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Herz zu dämpfen; aber oben
 
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über meinem dunklen Thale,
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Venus, seh ich angebrannt
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Deine flammenden Fanale,
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und den Blick hinaufgewandt
 
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ruf’ich aus dem tiefen Turme
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meiner Aengste zu dir hoch:
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Göttin, wandle dich zum Wurme,
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sei im Wurme Göttin noch!
 
33 
Sausend schaukelt eine Not mein Herz
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wie in erster süßer Knabenfrühe;
35 
ich verschmachte! ich verglühe!
36 
jeder Stern ist mir ein Schmerz, –
 
37 
ihrer Strahlen ferne starre Ruten
38 
martern, wenn du mich nicht kühlst,
39 
wenn nicht Du mit deinem brünstigen Blute
40 
meine brennenden Dürste stillst!
 
41 
Sieh, es lichtet sich ein neues Fenster,
42 
zuckt ein steiler Kerzenstreifen –
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niemals sah ich die Nacht beglänzter!
44 
Ja: entzünde dich dem Reifen,
 
45 
Ewige, lächle: Deine Kerzen bleiben,
46 
alle andern sind verblichen!
47 
Hinter jenen schwarzen Scheiben
48 
schlafen alle Ordentlichen ...
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.2 KB)

Details zum Gedicht „Gebet der Sucht“

Anzahl Strophen
12
Anzahl Verse
48
Anzahl Wörter
241
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Moderne

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Gebet der Sucht“ wurde von dem deutschen Dichter Richard Dehmel geschrieben, der von 1863 bis 1920 lebte. Damit lässt sich das Gedicht zur Epoche des Naturalismus bzw. der Moderne einordnen, welche Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts war.

Das lyrische Ich beschreibt in ergreifenden Worten seine Wahrnehmungen und Gefühle inmitten der Nacht. In seinem kleinen, engen und staubigen Raum, erblickt er durch sein Kellerfenster das glänzende Licht von Gaslaternen und Sternen. Diese zunächst ästhetisch erscheinende Betrachtung ist gleichzeitig Ausdruck tiefer Sehnsucht und Verzweiflung. Denn der Sprecher leidet unter dem Hunger, seiner kalten Zelle und dem Wunsch nach Wärme und Nahrung. Seine Wünsche und Begierden werden als fruchtbar beschrieben, ihnen kann er sich in seiner momentanen Situation aber nicht hingeben.

Er betrachtet die Welt draußen, die Freudenmädchen und die reichen Häuser mit ihren hell erleuchteten Fenstern und vergleicht sie mit seiner eigenen, tristen Welt. Dies verdeutlicht die soziale Ungleichheit und den Klassenunterschied seiner Zeit.

Zu Venus, der Göttin der Liebe, betet er und seht sie als Rettung. Sein Herz ist von Schmerzen geplagt und er sehnt sich nach Erlösung. Dabei bittet er die Göttin sich zum Wurm zu verwandeln, damit sie auch in seiner Situation verstanden werden kann. Das Gedicht endet damit, dass er in seiner Bedrängnis nach ihr ruft.

Das Gedicht besteht aus zwölf Strophen zu je vier Versen. Die verse sind Jamben, die im Wechsel gekreuzt und umarmend gereimt sind, was dem Gedicht einen rhythmischen Fluss und Melodie gibt. Die Wiederholung der Worte „Niemals sah ich die Nacht beglänzter“ betonen die Intensität seiner Wahrnehmungen und der Schwere seines Seins. Wortwiederholungen („ich verschmachte! ich verglühe!“) und die Verwendung von starken, emotionalen Ausdrücken („jeder Stern ist mir ein Schmerz,“) unterstreichen die Intensität seiner Gefühle und tragen zur dramatischen Atmosphäre des Gedichts bei.

Dehmel verwendet zudem emotionale und bildhafte Sprache, um die innere Not des lyrischen Ichs auszudrücken. Anspielungen auf christliche Motive (das Beten, das Erlösungsbedürfnis, das Leiden) sind in dem Gedicht deutlich zu erkennen und verdeutlichen die Tragweite der inneren Zerrissenheit und Verzweiflung des lyrischen Ichs.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Richard Dehmel in seinem Gedicht „Gebet der Sucht“ in kraftvoller, emotionaler Sprache die Isolation und Verzweiflung des lyrischen Ichs ausdrückt, der sich in einem Zustand tiefer sozialer und emotionaler Not befindet. Er verwendet dabei starke Bilder und Metaphern, um den Gefühlszustand deutlich zu machen und übt dabei ebenso Gesellschaftskritik. Das Gedicht ist somit ein eindringliches Werk über die menschliche Sehnsucht, Verzweiflung und das Streben nach Erlösung.

Weitere Informationen

Das Gedicht „Gebet der Sucht“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Richard Dehmel. Dehmel wurde im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1893 zurück. Erschienen ist der Text in München. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht der Epoche Moderne zuordnen. Der Schriftsteller Dehmel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 241 Wörter. Es baut sich aus 12 Strophen auf und besteht aus 48 Versen. Weitere Werke des Dichters Richard Dehmel sind „Auf der Reise“, „Aufblick“ und „Ballade vom Volk“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Gebet der Sucht“ weitere 522 Gedichte vor.

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