An Charlotte von Stein von Johann Wolfgang von Goethe

Warum gabst du uns die tiefen Blicke,
Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,
Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke
Wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
Uns einander in das Herz zu sehn,
Um durch all die seltenen Gewühle
Unser wahr Verhältnis auszuspähn?
 
Ach, so viele tausend Menschen kennen,
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Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
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Schweben zwecklos hin und her und rennen
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Hoffungslos in unversehnem Schmerz;
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Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
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Unerwart'te Morgenröte tagt.
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Nur uns armen liebevollen beiden
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Ist das wechselseit'ge Glück versagt,
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Uns zu lieben, ohn uns zu verstehen,
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In dem andern sehn, was er nie war,
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Immer frisch auf Traumglück auszugehen
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Und zu schwanken auch in Traumgefahr.
 
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Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt!
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Glücklich, dem die Ahndung eitel wär!
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Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt
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Traum und Ahndung leider uns noch mehr.
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Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
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Sag, wie band es uns so rein genau?
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Ach, du warst in abgelebten Zeiten
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Meine Schwester oder meine Frau.
 
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Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
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Spähtest, wie die reinste Nerve klingt,
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Konntest mich mit einem Blicke lesen,
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Den so schwer ein sterblich Aug durchdringt;
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Tropftest Mäßigung dem heißen Blute,
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Richtetest den wilden irren Lauf,
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Und in deinen Engelsarmen ruhte
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Die zerstörte Brust sich wieder auf;
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Hieltest zauberleicht ihn angebunden
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Und vergaukeltest ihm manchen Tag.
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Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
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Da er dankbar dir zu Füßen lag,
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Fühlt' sein Herz an deinem Herzen schwellen,
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Fühlte sich in deinem Auge gut,
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Alle seine Sinnen sich erhellen
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Und beruhigen sein brausend Blut!
 
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Und von allem dem schwebt ein Erinnern
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Nur noch um das ungewisse Herz,
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Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern,
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Und der neue Zustand wird ihm Schmerz.
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Und wir scheinen uns nur halb beseelet,
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Dämmernd ist um uns der hellste Tag.
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Glücklich, daß das Schicksal, das uns quälet,
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Uns doch nicht verändern mag!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.7 KB)

Details zum Gedicht „An Charlotte von Stein“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
307
Entstehungsjahr
1749 - 1832
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „An Charlotte von Stein“ des Autors Johann Wolfgang von Goethe. Goethe wurde im Jahr 1749 in Frankfurt am Main geboren. Das Gedicht ist in der Zeit von 1765 bis 1832 entstanden. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zugeordnet werden. Bei Goethe handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Der Sturm und Drang (häufig auch Geniezeit oder Genieperiode genannt) ist eine literarische Epoche, welche zwischen 1765 und 1790 existierte und an die Empfindsamkeit anknüpfte. Später ging sie in die Klassik über. Die Epoche des Sturm und Drang war eine Protestbewegung, die aus der Aufklärung hervorging. Der Protest richtete sich gegen den Adel und dessen höfische Welt, sowie andere absolutistische Obrigkeiten. Er richtete sich aber auch gegen das Bürgertum, das als freudlos und eng galt, und dessen Moralvorstellungen veraltet waren. Als Letztes richtete sich der Protest der Epoche des Sturm und Drang gegen Traditionen in der Literatur. Die Vertreter waren meistens junge Autoren, zumeist nicht älter als 30 Jahre. Um die subjektiven Empfindungen des lyrischen Ichs zum Vorschein zu bringen, wurde besonders darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Dennoch wurde eine eigene Jugendkultur und Jugendsprache mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Wiederholungen und Halbsätzen geschaffen. Mit der Hinwendung Goethes und Schillers zur Weimarer Klassik endete der Sturm und Drang.

Johann Wolfgang von Goethe (* 28. August 1749 in Frankfurt am Main; † 22. März 1832 in Weimar) ist einer der bedeutendsten Dichter der Weimarer Klassik. 1786 unternahm Goethe eine Italienreise, diese wird als Beginn der Weimarer Klassik angesehen. Das Ende der Epoche ist im Jahr 1832 auszumachen. Das Zentrum der Weimarer Klassik lag in Weimar. Häufig wird die Epoche auch nur als Klassik bezeichnet. Zu den wichtigsten Motiven der Weimarer Klassik gehören unter anderem Toleranz und Menschlichkeit. Typisch ist ein hohes Sprachniveau und eine reglementierte Sprache. Diese reglementierte Sprache verdeutlicht im Vergleich zum natürlichen Sprachideal der Literaturepoche des Sturm und Drang mit all seinen Derbheiten den Ausgleich zwischen Gefühl und Vernunft. Die Autoren haben in der Weimarer Klassik auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. Die wichtigen Schriftsteller der Weimarer Klassik sind: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried von Herder.

Das Gedicht besteht aus 52 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 307 Worte. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Wolfgang von Goethe sind „An den Selbstherscher“, „An die Entfernte“ und „An die Günstigen“. Zum Autor des Gedichtes „An Charlotte von Stein“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1617 Gedichte veröffentlicht.

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