Gebet von Karl Kraus

Du großer Gott, laß mich nicht Zeuge sein!
Hilf mir hinab ins Unbewußte.
Daß ich nicht sehen muß, wie sie mit Wein
zur Not ersetzen ihre Blutverluste.
 
Du großer Gott, vertreib mir diese Zeit!
Hilf mir zurück in meine Kindheit.
Der Weg zum Ende ist ja doch so weit,
und wie die Sieger schlage mich mit Blindheit.
 
Du großer Gott, so mach den Mund mir stumm!
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Nicht sprechen will ich ihre Sprache.
11 
Erst machen sie sich tot und dann noch dumm,
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es lügt ihr Haß, nimmt an der Wahrheit Rache.
 
13 
Du großer Gott, der den Gedanken gab,
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ihr Wort hat ihm den Rest gegeben.
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Ihr Wort ist allem Werte nur ein Grab,
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selbst Tat und Tod kam durch das Wort ums Leben.
 
17 
Du großer Gott, verschließ dem Graus mein Ohr,
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die Weltmusik ist ungeheuer!
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Dem armen Teufel in der Hölle fror,
20 
er fühlt sich wohl in diesem Trommelfeuer.
 
21 
Du großer Gott, der die Erfinder schuf
22 
und Odem haucht’ in ihre Nasen,
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schufst du die Kreatur zu dem Beruf,
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daß sie dir dankt mit ihren giftigen Gasen?
 
25 
Du großer Gott, warum beriefst du mich
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in diese gottverlassene Qualzeit?
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Strafst du mit Hunger, straflos setzte sich
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der Wucher zu der fetten Totenmahlzeit.
 
29 
Du großer Gott, warum in dieser Frist,
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wozu ward ich im blutigen Hause,
31 
wo jeder, der noch nicht getötet ist,
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sich fröhlich setzt zu seinem Leichenschmause?
 
33 
Du großer Gott, dies Land ist ein Plakat,
34 
auf dem sie ihre Feste malen
35 
mit Blut. Ihr Lied übt an dem Leid Verrat,
36 
der Mord muß für die Hetz’ die Zeche zahlen.
 
37 
Du großer Gott, hast du denn aus Gemüt
38 
Vampyre dieser Welt erschaffen?
39 
Befrei mich aus der Zeit, aus dem Geblüt,
40 
unseligem Volk von Henkern und Schlaraffen!
 
41 
Du großer Gott, erobere mir ein Land,
42 
wo Menschen nicht am Gelde sterben,
43 
und wo im ewig irdischen Bestand
44 
sie lachend nicht die reiche Schande erben!
 
45 
Du großer Gott, kennst du die Mittel nicht,
46 
die diese Automaten trennten,
47 
wenn sie sich trotz dem letzten Kriegsgericht
48 
bedrohen mit Granaten und Prozenten?
 
49 
Du großer Gott, raff mich aus dem Gewühl!
50 
Führ mich durch diese blutigen Räume.
51 
Verwandle mir die Nacht zu dem Gefühl,
52 
daß ich von deinem jüngsten Tage träume.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (27.6 KB)

Details zum Gedicht „Gebet“

Autor
Karl Kraus
Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
52
Anzahl Wörter
362
Entstehungsjahr
1920
Epoche
Moderne,
Expressionismus,
Avantgarde / Dadaismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Gebet“ wurde vom österreichischen Schriftsteller Karl Kraus verfasst, der von 1874 bis 1936 lebte. Das legt die Vermutung nahe, dass das Werk in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist – eine Zeit also, die von Umbrüchen, Kriegen und politischen Spannungen geprägt war.

Das lyrische Ich in Kraus' Gedicht führt einen verzweifelten Dialog mit Gott. Es bittet darum, von den Gräueltaten seiner Zeit verschont zu bleiben, und betont den Kontrast zwischen der himmlischen Ewigkeit und der irdischen Realität. Es klagt die Unmenschlichkeit seiner Zeitgenossen an und wirft Gott vor, nichts gegen deren Schandtaten zu unternehmen.

Auf den ersten Eindruck wirkt das Gedicht sehr emotional und intensiv, teils sogar bitter und verzweifelt. Es reflektiert möglicherweise die kriegerischen Konflikte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und deren Auswirkungen auf die Menschheit.

Inhaltlich zeichnet das lyrische Ich ein düsteres Bild seiner Zeit, das von Gewalt, Hass und Unehrlichkeit geprägt ist. Es wünscht sich eine Rückkehr in die Unbewusstheit und Unschuld der Kindheit und kritisiert die Degeneration der menschlichen Sprache und Werte. Es konfrontiert Gott mit seiner Mitschuld an diesen Missständen und appelliert an ihn, die Menschheit aus ihrer verderbten Situation zu erretten.

Formal ist das Gedicht in dreizehn gleich strukturierten Strophen mit jeweils vier Versen unterteilt. Jede Strophe beginnt mit einer direkten Anrede Gottes, gefolgt von einer Bitte oder einer Klage. Die Sprache des Gedichts ist klar und drastisch, teils sogar sarkastisch. Sie vermittelt eine intensive Abneigung gegen die Realität und betont die tiefe Enttäuschung des lyrischen Ichs.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kraus' Gedicht eine kraftvolle Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit darstellt: Es thematisiert die Absurdität von Krieg und Gewalt und deutet auf die spirituelle Krise einer entfremdeten Menschheit hin. Es fordert den Leser auf, über die Rolle Gottes und die menschliche Verantwortung für den Zustand der Welt nachzudenken.

Weitere Informationen

Karl Kraus ist der Autor des Gedichtes „Gebet“. 1874 wurde Kraus in Jičín (WP), Böhmen geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1920 entstanden. Der Erscheinungsort ist München. Die Entstehungszeit des Gedichtes bzw. die Lebensdaten des Autors lassen eine Zuordnung zu den Epochen Moderne, Expressionismus, Avantgarde / Dadaismus oder Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit zu. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Basis geschehen. Bitte überprüfe unbedingt die Richtigkeit der Angaben bei Verwendung. Das 362 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 52 Versen mit insgesamt 13 Strophen. Die Gedichte „An eine Falte“, „An einen alten Lehrer“ und „Auferstehung“ sind weitere Werke des Autors Karl Kraus. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Gebet“ weitere 61 Gedichte vor.

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