Frühling von Marie Eugenie Delle Grazie

Nun blühen am Tiberio die Narzissen
Und niederwallt ihr Athem mit der Luft,
So heiß, wie einer brünst’gen Seel’ entrissen,
Wie eines Brautgemach’s narkot’scher Duft –
Nun blühen am Tiberio die Narzissen!
 
Sieh die Capresin dort! Im dunklen Haare
Nickt siegreich ihr der weiße Frühlingsstern:
„Wenn diese wieder blüh’n im nächsten Jahre“,
Sprach der Geliebte, „bin ich nicht mehr fern“ –
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Drum blühen die Narzissen ihr im Haare!
 
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Und nahen fühlt sie ihn, in süßen Träumen,
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Korallen führt sein Schiff und Perlenfracht,
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Und von den Rudern sieht sie’s leuchtend schäumen,
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Wie Gold – da schreit sie auf, ach! und erwacht –
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Doch nahen fühlt sie ihn, in süßen Träumen!
 
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Und nahen seh’ auch ich, in schwankem Nachen,
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Das Glück, von einem fernen Wunderstrand,
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Und durch die Luft klingt sein melodisch Lachen,
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Und ausstreck’ sehnend ich nach ihm die Hand:
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„O nimm mich auf in deinen schwanken Nachen!“
 
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Nun blühen am Tiberio die Narzissen
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Und hoch im Frühlingsrausche geht die Fluth –
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So nimm mich hin – ich will mit fortgerissen
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Vom Taumel sein, verzehrt von deiner Gluth!
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Nun blühen am Tiberio die Narzissen!
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (25.9 KB)

Details zum Gedicht „Frühling“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
25
Anzahl Wörter
182
Entstehungsjahr
1892
Epoche
Realismus

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Frühling“ stammt von der österreichischer Dichterin Marie Eugenie Delle Grazie, die zwischen 1864 und 1931 lebte. Ihre Werke fallen in die Epoche der Jahrhundertwende, einer Zeitspanne Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, die auch als Fin de Siècle bekannt ist.

Der erste Eindruck des Gedichts vermittelt eine atmosphärische und intensive Darstellung des Frühlings. Es entführt den Leser in eine lebendige, sinnliche und emotionale Landschaft am italienischen Fluss Tiber.

Das lyrische Ich erzählt von den blühenden Narzissen, dem Duft der Blumen, einer Frau (Capresin), deren Geliebter zurückkehren wird, wenn die Narzissen erneut blühen. Sie träumt von ihm und seiner Rückkehr mit einem Schiff voller Schätze. Das lyrische Ich identifiziert sich mit den Gefühlen der Frau und sehnt sich ebenfalls nach einem fernen Glück. Schließlich existiert eine dringende Bitte, vom „Glut“ eines unbekannten Wesens (möglicherweise das Glück oder der Geliebte) mitgerissen zu werden.

Die Hauptbotschaft scheint eine intensive Sehnsucht nach Glück und Erfüllung zu sein, welche durch die romantische und doch irgendwie unerreichbare Vorstellung des Frühlings symbolisiert wird.

Das Gedicht hat eine sehr strukturierte Form mit fünf Strophen, jede mit fünf Versen. Die Wiederholung des ersten und letzten Verses jeder Strophe schafft eine klare Symmetrie und verstärkt das zentrale Motiv – die blühenden Narzissen. Darüber hinaus verwendet Delle Grazie eine reiche und bildhafte Sprache, die eine intensive sensorische Erfahrung ermöglicht. Sie schafft eine Atmosphäre des Verlangens und der Leidenschaft, verstärkt durch Worte wie „brünst’gen“, „narkot’scher“, „Taumel“ und „verzehrt.„

Insgesamt zeichnet dieses Gedicht ein lebendiges Bild des Frühlings als eine Zeit intensiver Emotionen und tiefgreifender Sehnsucht, hervorgehoben durch die wiederkehrende Symbolik der blühenden Narzissen und des sich nähernden Schiffes. Es ist ein typisches Beispiel für die poetische Ausdruckskraft der Jahrhundertwende, in der persönliche Emotionen und sinnliche Erlebnisse oft in den Vordergrund gestellt wurden.

Weitere Informationen

Marie Eugenie Delle Grazie ist die Autorin des Gedichtes „Frühling“. Im Jahr 1864 wurde Delle Grazie in Weißkirchen (Bela Crkva) geboren. 1892 ist das Gedicht entstanden. Der Erscheinungsort ist Leipzig. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten der Autorin her lässt sich das Gedicht der Epoche Realismus zuordnen. Delle Grazie ist eine typische Vertreterin der genannten Epoche. Das 182 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 25 Versen mit insgesamt 5 Strophen. Marie Eugenie Delle Grazie ist auch die Autorin für das Gedicht „Abend wird es“, „Abendsonnenschein“ und „Abschied“. Auf abi-pur.de liegen zur Autorin des Gedichtes „Frühling“ weitere 71 Gedichte vor.

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