Der Unzufriedene von Franz Grillparzer

1	Wird es ewig nimmer tagen?
2	Dämmert ewig mir kein Licht?
3	Niemand achtet meiner Klagen,
4	Er, der Mächtge, hört sie nicht.
5	Gott! nur einen Tropfen Wahrheit
6	Schenk mir aus dem ewgen Quell,
7	Und mein Geist, erfüllt mit Klarheit,
8	Sieht der Dinge Wesen hell!
9	Uns umhüllt mit dunklem Schleier
10	Wahn und Trug mit tiefer Nacht,
11	Dann erst blickt das Auge freier,
12	Wenn es jenseits neu erwacht.
13	Sende, Vater, wenn die Träne
14	Deines Kinds dich doch erweicht,
15	Einen deiner höhern Söhne,
16	Der mir Lebensbalsam reicht,
17	Der mich durch das Leben leite,
18	Frei von Irrtum und von Wahn,
19	Freundlich helfend vor mir schreite
20	Auf der Wahrheit Dornenbahn!
21	Also rief von Horebs Spitze
22	Durch die weite Wildnis hin
23	Zu des Allgewaltgen Sitze
24	Einst der weise Nureddin,
25	Der in dunkeln Felsenschlünden
26	Unter Fasten und Gebet
27	Lebte, um das zu ergründen,
28	Was des Menschen Aug entgeht.
29	Sieh! da tönen Himmelslieder,
30	Und mit Geisteswehen wallt
31	Aus den Wolken hehr hernieder
32	Eine göttliche Gestalt.
33	Glänzend, gleich dem Morgenrote,
34	Und mit freundlichem Gesicht,
35	Senket sich der Himmelsbote,
36	Tritt zu Nureddin und spricht:
37	»Wisse, daß um euch zu lehren
38	Mich die weise Allmacht schuf,
39	Und aus höhern Himmelssphären
40	Steig ich nun auf deinen Ruf.«
41	»Gott erhörte meine Bitte«,
42	Rufet Nureddin, »er heißt
43	Aus der Himmelsbrüder Mitte
44	Niedersteigen einen Geist,
45	Reich mir denn vom Baum des Lebens
46	Die so seltne, edle Frucht,
47	Die der Weise stets vergebens
48	Hier in diesen Tälern sucht,
49	Schenke mir den Stein der Weisen«,
50	Sowie Nureddin dies ruft,
51	Schwingt der Geist in weiten Kreisen
52	Sich mit Zürnen in die Luft.
53	Und aus hohen Wolken schallet
54	Geisterstimme in sein Ohr:
55	»Wurm, der dort im Kote wallet«,
56	Rufts von oben, »blöder Tor,
57	Um den Menschen zu beglücken,
58	Gab die Gottheit ihm Verstand,
59	Doch in seines Geistes Blicken
60	Fesselt ihn ein festes Band.
61	Was in seines Wirkens Kreise
62	Er bedarf, doch soviel nur,
63	Gab ihm der allgütge, weise
64	Vater jeder Kreatur,
65	Doch statt für die Huld zu danken,
66	Die der Gütige ihm beut,
67	Überspringt er kühn die Schranken
68	Seiner schwachen Endlichkeit.
69	Manches kann er nicht verstehen,
70	Was Gott weise ihm verhehlt;
71	Da schafft kindisch aus Ideen
72	Er sich eine eigne Welt,
73	Er verkörpert seine Träume
74	Und ein Bild der Fantasie
75	Suchet er durch ferne Räume,
76	Sucht und findet es doch nie.
77	Drum laß ab von eitlem Streben!
78	An des Lebens Rand, am Grab,
79	Erst in einem bessern Leben
80	Fällt das Band der Augen ab!«

Details zum Gedicht „Der Unzufriedene“

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Der Unzufriedene“ stammt aus der Feder des Autors bzw. Lyrikers Franz Grillparzer. Der Autor Franz Grillparzer wurde 1791 in Wien geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1807 entstanden. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Biedermeier oder Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Grillparzer ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das Gedicht besteht aus 80 Versen mit insgesamt 20 Strophen und umfasst dabei 393 Worte. Die Gedichte „Am Hügel“, „Am Morgen nach einem Sturm“ und „An einen Freund“ sind weitere Werke des Autors Franz Grillparzer. Zum Autor des Gedichtes „Der Unzufriedene“ haben wir auf abi-pur.de weitere 300 Gedichte veröffentlicht.

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