An Ovid von Franz Grillparzer

Dir, den in wilde, unwirtbare Wüsten,
wo nie ein Glücklicher sich schauen ließ,
auf Pontus ferne meerumtobte Küsten
der Grimm von Romas tückschem Herrscher stieß;
dir, armer Dulder, weih ich diese Blätter,
denn gleiches Los beschieden uns die Götter.
 
Von Menschen ferne lieg ich hier und weine,
unglücklicher als du, denn mich verbannt
ein Henker, fürchterlicher als der deine,
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des Schicksals allgewaltge Eisenhand.
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zu Menschen Ohren dringt des Menschen Stimme,
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doch taub ist das Geschick in seinem Grimme.
 
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Weil du zu viel gesehn, zu viel gesprochen,
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traf dich des Kaisers harter Richterspruch,
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doch welch Vergehn wird denn an mir gerochen,
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in dessen Herzen Fried und Unschuld schlug,
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ist mirs bestimmt, so martervoll zu leiden,
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so könnt ich dich um dein Vergehn beneiden.
 
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Für Sünden, lieblich im Begehn, zu büßen,
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das stumpft der grausenvollsten Strafe Qual,
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doch höllisch leiden und sich schuldos wissen,
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das schneidet tief wie dreigeschliffner Stahl;
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und bei den Göttern, die den Meineid rächen,
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rein ist mein Herz, ich weiß nichts von Verbrechen!
 
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Sanft trieb des Lebens Nachen, das Gewissen
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schlief drinnen wie ein neugebornes Kind;
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da ward ich plötzlich in die See gerissen,
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ein unglückselges Spiel von Meer und Wind;
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erloschen sind die sichern Leitersterne
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und meine Heimat birgt die Nebelferne.
 
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Die Hoffnung hat das Steuer aufgegeben
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und flieht mit scheuem, windesschnellem Fuß,
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sie, die sonst selbst beim Ausgang aus dem Leben
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an des Avernus dunkelm Schauerfluß
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dem müden Waller tröstend steht zur Seite,
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sie selbst versagt mir Armen ihr Geleite.
 
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Verzweiflung sitzt an ihrer Statt im Nachen
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und treibt den Kiel vom Lande weiter fort,
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dorthin, wo aus des schwarzen Abgrunds Rachen
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der Jammer grinset und der bleiche Mord;
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und wohin immer meine Blicke schweifen,
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sie können nichts als Schreckliches ergreifen.
 
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Nur einen Hafen läßt sie mich erschauen,
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an dessen Mund in unerforschter Nacht
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der Ewigkeit furchtbare Nebel grauen,
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die bleiche Furcht mit scheuem Zagen wacht,
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die jedem, der sich nahet ihren Toren,
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das Wort »Vernichtung« flüstert in die Ohren.
 
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Vernichtung! - Seis! - Mag, was ich bin, entschweben
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im ewgen Wirbeltanz der flüchtgen Zeit,
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Trotz sei geboten dir! Dies Blatt soll leben,
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wenn meines Seins Atome längst zerstreut.
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Zertritt mich auch der Fuß der nächsten Stunde,
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so leb ich ewig in der Nachwelt Munde.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (29 KB)

Details zum Gedicht „An Ovid“

Anzahl Strophen
9
Anzahl Verse
54
Anzahl Wörter
369
Entstehungsjahr
1791 - 1872
Epoche
Biedermeier,
Realismus

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „An Ovid“ des Autors Franz Grillparzer. Der Autor Franz Grillparzer wurde 1791 in Wien geboren. In der Zeit von 1807 bis 1872 ist das Gedicht entstanden. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Biedermeier oder Realismus zugeordnet werden. Grillparzer ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 369 Wörter. Es baut sich aus 9 Strophen auf und besteht aus 54 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Franz Grillparzer sind „Am Morgen nach einem Sturm“, „An einen Freund“ und „Beethoven“. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „An Ovid“ weitere 300 Gedichte vor.

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