Des Kindes Scheiden von Franz Grillparzer

1	Über des Bettes Haupt flog säuselnden Fluges ein Engel,
2	Und des Unsterblichen Blick fiel auf das schlafende Kind.
3	Wie sein eigenes Bild im Spiegel silberner Wellen,
4	Lächelt ihn freundlich und hold an die süße Gestalt.
5	Leise sinkt er herab, sich freuend der lieblichen Täuschung,
6	Und tritt luftigen Schritts vor das Schlafende hin.
7	Ach, es schlummert so süß, und Unschuld und himmlischer Friede
8	Wehen im Atem des Munds, ruhn auf der silbernen Stirn,
9	Kräuseln zum Heiligenschein des Hauptes goldene Locken,
10	Ruhn, wie ein Lilienzweig, in der gefalteten Hand.
11	Freundlich lächelt der Engel; doch bald umwölkt sich sein Antlitz,
12	Und mit brütendem Ernst wendet er seufzend sich ab.
13	Er überschauet im Geist den Sturm der kommenden Tage,
14	Dem nur die Eiche steht, der die Blume zerknickt;
15	Rauschen hört er des Unglücks seelenmordende Pfeile,
16	Wider die Unschuld und Recht nur ein zerbrechlicher Schild;
17	Tränend sieht er das Aug, das weich die Wimper bedecket,
18	Und zerschlagen die Brust, die jetzt atmend sich hebt.
19	Banges Mitleid erfaßt die Seele des himmlischen Boten,
20	Fragend schaut er empor, und der Allmächtige nickt.
21	Da umfängt er den Nacken und küßt die zuckenden Lippen,
22	Spricht: Sei glücklich, o Kind! - und die Kleine war tot.

Details zum Gedicht „Des Kindes Scheiden“

Gedicht-Analyse

Franz Grillparzer ist der Autor des Gedichtes „Des Kindes Scheiden“. Geboren wurde Grillparzer im Jahr 1791 in Wien. Im Zeitraum zwischen 1807 und 1872 ist das Gedicht entstanden. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Biedermeier oder Realismus zuordnen. Bei Grillparzer handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 196 Wörter. Es baut sich aus nur einer Strophe auf und besteht aus 22 Versen. Die Gedichte „An einen Freund“, „Beethoven“ und „Der Wunderbrunnen“ sind weitere Werke des Autors Franz Grillparzer. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Des Kindes Scheiden“ weitere 300 Gedichte vor.

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