Jugenderinnerungen im Grünen von Franz Grillparzer

Dies ist die Bank, dies sind dieselben Bäume,
Wo einst, das dunkle Schulbuch in der Hand,
Der Prüfung bang, den Kopf voll Frühlingsträume,
Vor manchem Jahr sich oft der Knabe fand.
 
Wie er da saß, glitt von den finstern Lettern,
Zu manchem fremden Worte schwer gefügt,
Der Blick hinauf zu jenen frischen Blättern,
In denen sich der Westwind spielend wiegt.
 
Und künftiger Gestalten Geisterreigen
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Und künftigen Vollbringens Schöpferlust
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Erschienen ihm in jener Wipfel Neigen,
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Erklangen ihm in ahnungsvoller Brust.
 
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Es ward erfüllt das kaum gewagte Hoffen,
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Die Ahnung hielt, was sie vorhergesagt,
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Des Wirkens goldne Tore stehen offen,
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Ein Schritt gelang, ein zweiter ward gewagt.
 
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Und nun nach manchen Jahres Zwischenräumen,
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Zum Mann gereift, gewogen und erkannt,
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Find ich mich wieder unter diesen Bäumen,
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Den Blick, wie damals, über mir gewandt,
 
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Und Seufzer, so wie damals, schwellend heben
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Die müde Brust, von mancher Sorge schwer,
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Bis auf die Träne, die nicht mehr gegeben,
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Ist alles so wie damals, ringsumher.
 
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Ungnügsam Herz, warum bist du beklommen?
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Was du so heiß ersehnet, stehet da!
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Die Stunde der Erfüllung ist gekommen,
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Du hast es, was dein Wunsch in weiter Ferne sah.
 
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Wie? oder war der bunten Bilder Fülle
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Der Inhalt nicht von dem, was du begehrt,
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War nur der tiefern Sehnsucht äußre Hülle,
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Das Kleid nur dessen, was dir wünschenswert?
 
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Hast Schönes du vielleicht gestrebt zu bilden,
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Um schöner dich zu fühlen selber mit?
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War Schreiten in des Wissens Lichtgefilden
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Im Land des Wollens dir zugleich ein Schritt?
 
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Hast du vielleicht nach Ehr und Ruhm getrachtet,
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Vermengend in Gedanken, jugendlich,
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Das Aug, mit dem die Welt den Mann betrachtet,
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Und das, womit er selbst betrachtet sich?
 
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Schien dir die Welt mit ihren weiten Fernen
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Ein Urbild, wert des Nachgebilds zu sein?
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Hast, wo sie schimmert, du geträumt von Sternen?
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Von Wirklichkeit bei jedem holden Schein?
 
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O Trügerin von Anfang, du, o Leben!
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Ein reiner Jüngling trat ich ein bei dir,
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Rein war mein Herz und rein war all mein Streben,
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Du aber zahltest Trug und Täuschung mir dafür.
 
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Die Freundschaft sprach, mein Innres tönte wieder,
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Wir stießen, zwei, kühn schwimmend ab vom Strand.
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Er sank, ich hielt ihn noch, er zog mich nieder
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Und rettete ermattet sich ans Land.
 
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Gewaltger regten sich geheimre Triebe,
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Ein unbekanntes Sehnen wurde wach,
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Sie nannten es, ich selber nannt es Liebe,
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Und einer Holden ging mein Streben nach.
 
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Kaum nur gesehn, kein Wort von ihr vernommen,
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Schien sie entstammt aus höherm Lichtgefild,
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Durch Berg und Tal, vom innern Brand entglommen,
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Verfolgt ich, das mich floh, ihr holdes Bild.
 
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Da kam der Tag, der Schleier war zerrissen,
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Gemeinheit stand, wo erst ein Engel flog.
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Sich selber träumte Sehnsucht, gleich Narzissen,
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Und starb, wie er, am Quell, der sie betrog.
 
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Ein Vorhang deckt, die darauf folgt, die Stelle;
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Ich lüft ihn nicht, Erwähnung schon genügt,
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Zwei Sphingen ruhn an der verborgnen Schwelle,
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Das Götterhaupt dem Tierleib angefügt.
 
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Der Eintritt scheint zu Hoffnungen berechtigt,
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Das Ende wär als Anfang gut genug,
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Doch eh der Geist der Folge sich bemächtigt,
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Ist auch vorüber schon der grobe Trug.
 
73 
Da fand ich sie, die nimmer mir entschwinden,
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Sich mir ersetzen wird im Leben nie,
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Ich glaubte meine Seligkeit zu finden,
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Und mein geheimstes Wesen rief: nur sie!
 
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Gefühl, das sich in Herzenswärme sonnte,
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Verstand, wenngleich von Güte überragt;
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Ans Märchen grenzt, was sie für andre konnte,
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An Heilgenschein, was sie sich selbst versagt.
 
81 
Der Zweifel, der mir schwarz oft nachgestrebet:
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Ob Güte sei? durch sie ward er erhellt;
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Der Mensch ist gut, ich weiß es, denn sie lebet,
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Ihr Herz ist Bürge mir für eine Welt.
 
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In Glutumfassen stürzten wir zusammen,
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Ein jeder Schlag gab Funken und gab Licht;
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Doch unzerstörbar fanden uns die Flammen,
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Wir glühten, aber ach, wir schmolzen nicht.
 
89 
Denn Hälften kann man aneinanderpassen,
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Ich war ein Ganzes und auch sie war ganz,
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Sie wollte gern ihr tiefstes Wesen lassen,
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Doch allzufest geschlungen war der Kranz.
 
93 
So standen beide, suchten sich zu einen,
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Das andre aufzunehmen ganz in sich,
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Doch all umsonst, trotz Ringen, Stürmen, Weinen,
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Sie blieb ein Weib, und ich war immer ich.
 
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Ja, bis zum Grimme ward erhöht das Mühen,
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Gesucht im Einzeln, was im Ganzen lag,
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Kein Fehler ward, kein Wort ward mehr verziehen,
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Und neues Quälen brachte jeder Tag.
 
101 
Da ward ich hart. Im ewgen Spiel der Winde,
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Im Wettersturm, von Sonne nie durchblickt,
103 
Umzog das stärkre Bäumchen sich mit Rinde,
104 
Das schwächre neigte sich und war zerknickt.
 
105 
O seliges Gefühl der ersten Tage,
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Warum mußt du ein Traum gewesen sein?
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Lebt denn das Schöne nur in Bild und Sage,
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Und schlürfts die Wirklichkeit wie Nebel ein?
 
109 
Auch dort nicht heimatlos in Bild und Worte,
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Floh ich, dem meerbedrängten Schiffer gleich,
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Sooft den Stürmen aufgetan die Pforte,
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In jenes Hafens schützenden Bereich.
 
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Gelagert in dem Dufte fremder Kräuter,
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Umspielt von fremder Wipfel leisem Wehn,
115 
Sah ich im Traum die hohe Himmelsleiter,
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An der die Geister ab- und aufwärts gehn.
 
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Und angeregt, sie selber zu besteigen,
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Umherzuschauen in dem weiten Raum,
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Versucht ich, rückgekehrt, es anzuzeigen,
120 
Was ich gesehn, halb Wahrheit und halb Traum.
 
121 
»Den Armen, dem sich ab ein Gott gewendet,
122 
Des Dichters blendend, trauriges Geschick,
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Wie das Gemüt im eignen Abgrund endet,
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Der Erdengröße schnellverwelktes Glück.«
 
125 
Und flammend gab ich das Geschaute wieder,
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Der Hörer, ob auch kalt, entging mir nicht,
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Denn Lebenspulsschlag zog durch meine Lieder,
128 
Und wahr, wie mein Gefühl, war mein Gedicht.
 
129 
Vorahnend durft ich zu den Großen sagen,
130 
Die längst umwallt der Ruhm wie Opferrauch:
131 
So hoch als euch mag mich kein Flügel tragen,
132 
Doch, Meister, schaut! ein Maler bin ich auch.
 
133 
Da kam die Nüchternheit in ihrer Blöße,
134 
Die groß sich dünkt, weil hohl sie zwar, doch weit;
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Nach Ellen maß sie meiner Menschen Größe,
136 
Nach Pfund und Lot der Stoffe Hältigkeit.
 
137 
Doch kann die Formel Leben je bereiten?
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Was ungeheuer, ist darum nicht groß.
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Ein Mögliches ragt über alle Weiten,
140 
Das Wirkliche zeigt sich im Raume bloß.
 
141 
Wo tausend Tinten meine Blicke spürten,
142 
Da sah der Stumpfsinn schroffes Grün und Blau,
143 
Wo Rätsel mich zu neuen Rätseln führten,
144 
Da wußten sie die Lösung ganz genau.
 
145 
War eine Wiese, wo ich Blumen pflückte,
146 
Die Rinderzucht drauf hingetrieben frisch!
147 
Wo nur ihr Fußtritt in den Boden drückte,
148 
Lag Schlamm und Gras in ekligem Gemisch.
 
149 
Was nicht zu sagen, davon ging die Rede,
150 
Was auszusprechen nicht, das sprach ihr Wort;
151 
Verschmähst du ihre Waffen auch zur Fehde,
152 
Schon Unsinn ists, zu wählen ihren Ort.
 
153 
Gestalten, die mein Geist in Glut umfangen,
154 
Die Roheit legte dran die schmutzge Hand,
155 
Ich sah die Spur auf den entweihten Wangen,
156 
Und mein Gemüt, es fühlte sich entwandt.
 
157 
Und wie der Mensch den Ort, den schönsten, werten,
158 
Nicht mehr betritt, wenn Gräulichs ihn betrat,
159 
So floh mein Geist aus meiner Jugend Gärten,
160 
Empört von seines Heiligsten Verrat.
 
161 
Hart hinterher der Mißgunst lange Zeile,
162 
Der Neid, der Haß, bewaffnet anzusehn,
163 
Mit dopplem Eindruck trafen ihre Pfeile,
164 
Denn, ach, wer singt, kann nicht im Harnisch gehn;
 
165 
Und stellt er ihnen sich, die nach ihm zielen,
166 
Ergreift des Streites zorniges Gerät,
167 
Der schwere Panzer drücket harte Schwielen,
168 
Drob des Empfindens weicher Sinn entgeht.
 
169 
So floh ich aus des Kampfes Glutbeschwerde
170 
Hin zur Natur, wo Leben neu sich schafft,
171 
Den Busen drückt ich an die Mutter Erde,
172 
Um, wie Antäus, zu erstehn in Kraft.
 
173 
Doch sie, die oft geführt schon meine Sache,
174 
Getröstet mich so oft und gern zuvor,
175 
Verloren hatte sie für mich die Sprache,
176 
Die Sprache, oder ich für sie das Ohr.
 
177 
Gelehrig sonst an ihrer frommen Seite,
178 
Schien jetzt nur trotzig Schaffen mir Gewinn,
179 
Ihr Wort verklang in meines Busens Weite,
180 
Ihr Wink verschwand vor meinem stumpfen Sinn.
 
181 
Und schaudernd vor der Welt und ihrem Treiben,
182 
Ein jedes Band verschmähend, das sie flicht,
183 
Mocht ichs nicht leben, konnt ichs nicht beschreiben,
184 
Und selbst den Anblick fast ertragen nicht.
 
185 
Ja, horchend auf des Innern leise Zungen,
186 
Erschaudert mein Gemüt, wenn es ihm däucht,
187 
Es kling ein Ton, den Tönen nachgeklungen,
188 
Mit denen das Gemeine mich verscheucht.
 
189 
Und also sitz ich an derselben Stätte,
190 
Wo schon der Knabe träumte, saß und sann.
191 
Wenn erst ich das Verlorne wieder hätte,
192 
Wie gäb ich gern, was ich seitdem gewann.

Details zum Gedicht „Jugenderinnerungen im Grünen“

Anzahl Strophen
48
Anzahl Verse
192
Anzahl Wörter
1348
Entstehungsjahr
1791 - 1872
Epoche
Biedermeier,
Realismus

Gedicht-Analyse

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Jugenderinnerungen im Grünen“ des Autors Franz Grillparzer. Der Autor Franz Grillparzer wurde 1791 in Wien geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes liegt zwischen den Jahren 1807 und 1872. Eine Zuordnung des Gedichtes zu den Epochen Biedermeier oder Realismus kann aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors vorgenommen werden. Grillparzer ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen. Das vorliegende Gedicht umfasst 1348 Wörter. Es baut sich aus 48 Strophen auf und besteht aus 192 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Franz Grillparzer sind „An einen Freund“, „Beethoven“ und „Der Wunderbrunnen“. Zum Autor des Gedichtes „Jugenderinnerungen im Grünen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 300 Gedichte veröffentlicht.

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