Europa von Kurt Tucholsky

Am Rhein, da wächst ein süffiger Wein –
der darf aber nicht nach England hinein –
Buy British!
In Wien gibt es herrliche Torten und Kuchen,
die haben in Schweden nichts zu suchen –
Köp svenska varor!
In Italien verfaulen die Apfelsinen –
laßt die deutsche Landwirtschaft verdienen!
Deutsche, kauft deutsche Zitronen!
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Und auf jedem Quadratkilometer Raum
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träumt einer seinen völkischen Traum.
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Und leise flüstert der Wind durch die Bäume ...
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Räume sind Schäume.
 
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Da liegt Europa. Wie sieht es aus?
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Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus.
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Die Nationen schuften auf Rekord:
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Export! Export!
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Die andern! Die andern sollen kaufen!
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Die andern sollen die Weine saufen!
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Die andern sollen die Schiffe heuern!
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Die andern sollen die Kohlen verfeuern!
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Wir?
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Zollhaus, Grenzpfahl und Einfuhrschein:
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wir lassen nicht das geringste herein.
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Wir nicht. Wir haben ein Ideal:
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Wir hungern. Aber streng national.
 
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Fahnen und Hymnen an allen Ecken.
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Europa? Europa soll doch verrecken!
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Und wenn alles der Pleite entgegentreibt:
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daß nur die Nation erhalten bleibt!
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Menschen braucht es nicht mehr zu geben!
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England! Polen! Italien muß leben!
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Der Staat frißt uns auf. Ein Gespenst. Ein Begriff.
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Der Staat, das ist ein Ding mitm Pfiff.
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Das Ding ragt auf bis zu den Sternen –
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von dem kann noch die Kirche was lernen.
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Jeder soll kaufen. Niemand kann kaufen.
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Es rauchen die völkischen Scheiterhaufen.
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Es lodern die völkischen Opferfeuer:
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Der Sinn des Lebens ist die Steuer!
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Der Himmel sei unser Konkursverwalter!
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Die Neuzeit tanzt als Mittelalter.
 
43 
Die Nation ist das achte Sakrament –!
44 
Gott segne diesen Kontinent.
Arbeitsblatt zum Gedicht
PDF (26.8 KB)

Details zum Gedicht „Europa“

Anzahl Strophen
4
Anzahl Verse
44
Anzahl Wörter
245
Entstehungsjahr
1932
Epoche
Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit,
Exilliteratur

Gedicht-Analyse

Das Gedicht „Europa“ wurde von Kurt Tucholsky verfasst und stammt aus dem Jahr 1929. Diese zeitliche Einordnung ist wichtig, da das Gedicht in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen veröffentlicht wurde und vor dem Hintergrund eines erstarkenden Nationalismus und protektionistischer Wirtschaftspolitik in Europa gelesen werden sollte.

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht humorvoll und satirisch, wobei Tucholsky verschiedene europäische Länder und ihre jeweiligen Eigenheiten aufgreift. Dabei geht es im Kern um den Gedanken des Nationalismus und der Selbstbezogenheit, die in den Ländern Europas weit verbreitet sind.

Der Inhalt des Gedichtes beschreibt zunächst, wie jedes Land stolz auf seine eigenen Produkte ist und diese den anderen Ländern empfiehlt, während es gleichzeitig versucht, ausländische Importe abzuwehren, um die eigene Wirtschaft zu schützen. Jedes Land träumt seinen eigenen „völkischen Traum“, statt zusammenzuarbeiten und die Vorteile einer gemeinsamen europäischen Zusammenarbeit zu sehen. Stattdessen herrschen Zollschranken und nationaler Egoismus in Europa, was in Tucholskys Augen zu einer ökonomischen Selbstsabotage führt.

Formal besteht das Gedicht aus sieben Strophen, die in ihrer Länge variieren und sich in der Anzahl der Verse unterscheiden. Es gibt keine festen Reimschematas oder Metren. Die Sprache ist teilweise umgangssprachlich und ironisch geprägt, und es werden sowohl deutsche als auch fremdsprachige Phrasen verwendet.

Insgesamt zeigt das Gedicht „Europa“ die Absurdität und Doppelmoral von Nationalismus und Protektionismus in Europa, wie sie zur Zeit Tucholskys bestanden. Er kritisiert die rückwärtsgewandte Haltung der Völker und die fehlende Zusammenarbeit in Europa. Dabei greift er schon früh den Gedanken einer europäischen Union und Zusammenarbeit auf, die sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln sollte.

Weitere Informationen

Der Autor des Gedichtes „Europa“ ist Kurt Tucholsky. 1890 wurde Tucholsky in Berlin geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1932 entstanden. Erscheinungsort des Textes ist Berlin. Anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her kann der Text den Epochen Literatur der Weimarer Republik / Neue Sachlichkeit oder Exilliteratur zugeordnet werden. Der Schriftsteller Tucholsky ist ein typischer Vertreter der genannten Epochen.

Inhaltlich wurden in der Literatur der Weimarer Republik häufig die Ereignisse des Ersten Weltkriegs verarbeitet. Die geschichtlichen Einflüsse des Ersten Weltkrieges und der späteren Weimarer Republik sind die prägenden Faktoren dieser Epoche. Das wohl bedeutendste Merkmal der Literatur in der Weimarer Republik ist die Neue Sachlichkeit, die so heißt, da sie schlicht, klar, sachlich und hoch politisch ist. Die Literatur dieser Zeit war nüchtern und realistisch. Ebenso stellt sie die moderne Gesellschaft kühl distanziert, beobachtend, dokumentarisch und exakt dar. Die Schriftsteller der Literaturepoche wollten so viele Menschen wie möglich mit ihren Texten erreichen, deshalb wurde eine einfache und nüchterne Alltagssprache verwendet. Die Freiheit von Wort und Schrift war zwar verfassungsmäßig garantiert, doch bereits 1922 wurde nach der Ermordung von Walter Rathenau das Republikschutzgesetz erlassen, das diese Freiheit wieder einschränkte. Viele Schriftsteller litten unter dieser Zensur. In der Praxis wurde dieses Gesetz allerdings nur gegen linke Autoren angewandt. Aber gerade die rechts gerichteten Schriftsteller waren es häufig, die in ihren Werken offen Gewalt verherrlichten. Die Grenzen der Zensur wurden im Jahr 1926 durch das sogenannte Schund- und Schmutzgesetz nochmals verstärkt. Die Beschlagnahmung von Schriften und das Verbot von Zeitungen wurden durch die Pressenotverordnung im Jahr 1931 ermöglicht.

Als Exilliteratur wird die Literatur von Schriftstellern bezeichnet, die unfreiwillig Zuflucht in der Fremde suchen müssen, weil ihre Person oder ihr Werk in ihrer Heimat bedroht sind. Für die Flucht ins Exil geben meist religiöse oder politische Gründe den Ausschlag. Die Exilliteratur in Deutschland entstand in den Jahren von 1933 bis 1945 als Literatur der Gegner des Nationalsozialismus. Dabei spielten zum Beispiel die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und der deutsche Überfall auf die Nachbarstaaten Deutschlands in den Jahren 1938/39 eine ausschlaggebende Rolle. Die Exilliteratur bildet eine eigene Epoche in der deutschen Literaturgeschichte. Sie schließt an die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik an. Themen wie Verlust der eigenen Kultur, existenzielle Probleme, Sehnsucht nach der Heimat oder Widerstand gegen den Nationalsozialismus sind typisch für diese Epoche der Literatur. Bestimmte formale Gestaltungsmittel wie zum Beispiel Metrum, Reimschema oder der Gebrauch bestimmter rhetorischer Mittel lassen sich in der Exilliteratur nicht finden. Die Exilliteratur weist häufig einen Pluralismus der Stile (Realismus und Expressionismus), eine kritische Betrachtung der Wirklichkeit und eine Distanz zwischen Werk und Leser oder Publikum auf. Sie hat häufig die Absicht zur Aufklärung und möchte Gesellschaftsentwicklungen aufzeigen (wandelnder Mensch, Abhängigkeit von der Gesellschaft).

Das 245 Wörter umfassende Gedicht besteht aus 44 Versen mit insgesamt 4 Strophen. Die Gedichte „’s ist Krieg!“, „Abschied von der Junggesellenzeit“ und „Achtundvierzig“ sind weitere Werke des Autors Kurt Tucholsky. Auf abi-pur.de liegen zum Autor des Gedichtes „Europa“ weitere 136 Gedichte vor.

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