Euphrosyne von Johann Wolfgang von Goethe

Elegie

Auch von des höchsten Gebirgs beeisten zackigen Gipfeln
Schwindet Purpur und Glanz scheidender Sonne hinweg,
Lange deckt Nacht schon das Thal und die Pfade des Wandrers,
Der am tosenden Strom, auf zu der Hütte sich sehnt,
Zu dem Ziele des Tags, der stillen hirtlichen Wohnung,
Und der göttliche Schlaf eilet gefällig voraus,
Dieser holde Geselle des Reisenden. Daß er auch heute,
Segnend, kränze das Haupt mir mit dem heiligen Mohn!
Aber was leuchtet mir dort vom Felsen glänzend herüber?
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Und erhellet den Duft schäumender Ströme so hold?
 
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Strahlt die Sonne vielleicht durch heimliche Spalten und Klüfte?
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Denn kein irrdischer Glanz ist es der wandelnde dort.
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Näher wälzt sich die Wolke! sie glühet. Ich staune dem Wunder!
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Wird der rosige Strahl nicht ein bewegtes Gebild?
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Welche Göttin nahet sich mir? und welche der Musen
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Suchet den treuen Freund, selbst in dem grausen Geklüft?
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Schöne Göttin! enthülle dich mir, und täusche, verschwindend,
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Nicht den begeisterten Sinn, nicht das gerührte Gemüth.
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Nenne, wenn du es darfst, vor einem Sterblichen, deinen
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Göttlichen Nahmen, wo nicht, rege bedeutend mich auf,
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Daß ich fühle welche du seyst von den ewigen Töchtern
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Zeus, und der Dichter sogleich preise dich würdig im Lied.
 
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„Kennst du mich Guter nicht mehr? und käme diese Gestalt dir,
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Die du doch sonst geliebt, schon als ein fremdes Gebild?
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Zwar der Erde gehör ich nicht mehr und trauernd entschwang sich
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Schon der schaudernde Geist jugendlich frohem Genuß,
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Aber ich hoffte mein Bild noch fest in des Freundes Erinnrung
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Eingeschrieben, und noch schön durch die Liebe verklärt.
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Ja schon sagt mir gerührt dein Blick, mir sagt es die Thräne,
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Euphrosyne sie ist noch von dem Freunde gekannt.
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Sieh! die Scheidende zieht durch Wälder und grause Gebirge,
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Sucht den wandernden Mann, ach! in der Ferne, noch auf.
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Sucht den Lehrer, den Freund, den Vater, und blicket noch einmal
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Nach dem leichten Gerüst irrdischer Freuden zurück.
 
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Laß mich der Tage gedenken, da du das Kind mich dem Spiele
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Jener täuschenden Kunst reizender Musen geweiht.
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Laß mich der Stunde gedenken und jedes kleineren Umstands.
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Ach! wer ruft nicht so gern unwiderbringliches an!
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Jenes süße Gedränge der leichtesten irrdischen Tage,
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Ach! wer schätzt ihn genug diesen vereilenden Werth.
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Klein erscheinet es nun, doch ach! nicht kleinlich dem Herzen;
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Macht die Liebe, die Kunst jegliches Kleine doch groß.
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Denkst du der Stunde noch wohl, wie auf dem Brettergerüste,
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Du mich der höheren Kunst ernstere Stufen geführt?
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Knabe schien ich, ein rührendes Kind, du nanntest mich Arthur,
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Und belebtest in mir brittisches Dichtergebild,
 
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Drohtest mit grimmiger Gluth den armen Augen, und wandtest
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Selbst den thränenden Blick, innig getäuschet hinweg,
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Ach! da warst du so hold und schütztest ein trauriges Leben,
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Das die verwegene Flucht endlich dem Knaben entriß.
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Freundlich faßtest du mich den gestürtzten, und trugst mich von dannen
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Und ich heuchelte lang, dir an dem Busen, den Tod,
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Endlich schlug ich das Aug auf und sah dich, Geliebter, in ernste,
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Stille Betrachtung versenkt, über den Liebling geneigt.
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Kindlich strebt ich empor, und küßte dir dankbar die Hände,
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Reichte, zum reinen Kuß, dir den gefälligen Mund.
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Fragte: warum so ernst mein Vater? und hab ich gefehlet,
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O! so zeige mir an, wie mir das beßre gelingt.
 
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Keine Mühe verdrießt mich bey dir, und alles und jedes
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Wiederhol’ ich so gern, wenn du mich leitest und lehrst.
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Aber du faßtest mich stark und drücktest mich fester im Arme,
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Und es schauderte mir tief in dem Busen das Herz.
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Nein mein liebliches Kind, so riefst du, alles und jedes
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Wie du es heute gezeigt, zeig es auch morgen der Stadt.
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Rühre sie alle wie du mich rührst, und es fließen zum Beyfall
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Dir von dem trockensten Aug’ herrliche Thränen herab.
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Aber am tiefsten trafst du mich doch, den Freund, der im Arm dich
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Hält, den selber der Schein früherer Leiche geschreckt.
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Ach! Natur wie sicher und groß in allem erscheinst du,
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Himmel und Erde befolgt ewiges, festes Gesetz,
 
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Jahre folgen auf Jahre, dem Frühlinge reichet der Sommer,
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Und dem reichlichen Herbst, traulich, der Winter die Hand.
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Felsen stehen gegründet, es stürzt sich das ewige Wasser
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Sich aus bewölkter Kluft, schäumend und brausend hinab,
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Grünet die Fichte doch fort und selbst die entlaubten Gebüsche
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Hegen, im Winter schon, heimlich, die Knospen am Zweig
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Alles entsteht und vergeht gesetzlich, doch über des Menschen
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Leben, dem köstlichen Schatz, herrschet ein schwankendes Loos.
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Nicht dem blühenden nickt der willig scheidende Vater,
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Seinem trefflichen Sohn, freundlich vom Rande der Gruft;
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Nicht der jüngere schließt dem älteren immer das Auge,
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Das sich willig gesenkt, kräftig dem schwächeren zu.
 
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Oefter ach! verkehrt das Geschick die Ordnung der Tage
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Hülflos klaget ein Greis Kinder und Enkel umsonst,
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Steht, ein beschädigter Stamm, dem rings zerschmetterte Zweige
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Um die Seiten umher strömende Schlossen gestreckt.
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Und so, liebliches Kind, durchdrang mich die tief Betrachtung,
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Als du zur Leiche verstellt über die Arme mir hingst;
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Aber freudig seh ich dich nun, in dem Glanze der Jugend,
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Vielgeliebtes Geschöpf, wieder am Herzen belebt.
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Springe fröhlich dahin, verstellter Knabe, das Mädchen
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Wächst zur Freude der Welt, mir zum Entzücken heran.
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Immer strebe so fort, und deine natürlichen Gaben
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Bilde bey jeglichem Schritt steigenden Lebens, die Kunst.
 
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Sey mir lange zur Lust und eh’ mein Auge sich schließet,
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Wünsch ich dein schönes Talent glücklich vollendet zu sehn.
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Also sprachst du, und nie vergaß ich der wichtigen Stunde,
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Deutend entwickelt ich mich an dem erhabenen Wort.
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O! wie sprach ich so gerne zum Volk die rührenden Reden,
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Die du, voller Gehalt, kindlichen Lippen vertraut,
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O wie! bildet ich mich an deinen Augen und suchte
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Dich im tiefen Gedräng staunender Hörer heraus.
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Doch dort wirst du nun seyn und sitzen, und nimmer bewegt sich
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Euphrosyne hervor, dir zu erheitern den Blick,
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Du vernimmst sie nicht mehr die Töne des wachsenden Zöglings,
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Die du zu liebendem Schmerz frühe, so frühe! gestimmt,
 
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Andere kommen und gehn, es werden dir andre gefallen,
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Selbst dem großen Talent, drängt sich ein größeres nach.
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Aber du vergesse mich nicht! wenn eine dir jemals
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Sich im verworrnen Geschäft heiter entgegen bewegt,
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Deinem Winke sich fügt, an deinem Lächeln sich freuet,
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Und am Platze sich nur, den du bestimmtest, gefällt,
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Wenn sie Fleiß nicht spart noch Mühe, wenn sie die Kräfte,
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Selbst bis zur Pforte des Grabs, freudiges Opfer dir bringt
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Dann gedenkest du mein, du guter, und rufest auch spät noch:
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Euphrosyne, sie ist wieder erstanden vor mir!
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Vieles sagt ich noch gern, doch ach! die Scheidende weilt nicht
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Wie sie wollte, mich führt, streng, ein gebietender Gott.
 
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Lebe wohl schon zieht michs dahin in schwankendem Eilen,
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Einen Wunsch nur vernimm, freundlich gewähre mir ihn:
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Laß nicht ungerühmt mich zu den Schatten hinabgehn!
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Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod.
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Denn gestaltlos schweben umher in Persefoneias
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Reiche, massenweiß, Schatten, vom Nahmen getrennt.
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Wen der Dichter aber gerühmt der wandelt, gestaltet,
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Einzeln, gesellet dem Chor aller Heroen sich zu.
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Freudig tret ich einher, von deinem Liede verkündet,
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Und der Göttin Blick weilet gefällig auf mir.
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Mild empfängt sie mich dann und nennt mich, es winken die hohen
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Göttlichen Frauen mich an, immer die nächsten am Thron.
 
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Penelopeia redet zu mir, die treuste der Weiber,
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Auch Evadne, gelehnt auf den geliebten Gemahl.
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Jüngere nahen sich dann, zu früh herunter gesandte,
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Und beklagen mit mir unser gemeines Geschick.
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Wenn Antigone kommt, die schwesterlichste der Seelen,
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Und Polyxena trüb noch von dem bräutlichen Tod;
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Seh ich als Schwestern sie an, und trete würdig zu ihnen,
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Denn der tragischen Kunst holde Geschöpfe sind sie.
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Bildete doch ein Dichter auch mich! und seine Gesänge,
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Ja sie vollenden an mir, was mir das Leben versagt.
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Also sprach sie und noch bewegte der liebliche Mund sich
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Weiter zu reden, allein schwirrend versagte der Ton.
 
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Denn aus dem Purpurgewölk, dem schwebenden, immer bewegten,
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Trat der herrliche Gott Hermes gelassen hervor,
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Mild erhob er den Stab und deutete, wallend verschlangen
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Wachsende Wolken, im Zug, beyde Gestalten vor mir.
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Tiefer liegt die Nacht um mich her, die stürzenden Wasser
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Brausen gewaltiger nun, neben dem schlüpfrigen Pfad,
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Unbezwingliche Trauer befällt mich, entkräftender Jammer,
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Und ein moosiger Fels stützet den sinkenden nur.
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Wehmuth reißt durch die Saiten der Brust, die nächtlichen Thränen
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Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen sich an.

Details zum Gedicht „Euphrosyne“

Anzahl Strophen
13
Anzahl Verse
152
Anzahl Wörter
1354
Entstehungsjahr
1799
Epoche
Sturm & Drang,
Klassik

Gedicht-Analyse

Johann Wolfgang von Goethe ist der Autor des Gedichtes „Euphrosyne“. Der Autor Johann Wolfgang von Goethe wurde 1749 in Frankfurt am Main geboren. Das Gedicht ist im Jahr 1799 entstanden. Tübingen ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei Goethe handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.

Sturm und Drang ist die Bezeichnung für die Literaturepoche in den Jahren von etwa 1765 bis 1790 und wird häufig auch Geniezeit oder zeitgenössische Genieperiode genannt. Diese Bezeichnung entstand durch die Verherrlichung des Genies als Urbild des höheren Menschen und Künstlers. Die Epoche des Sturm und Drang knüpft an die Empfindsamkeit an und geht später in die Klassik über. Die Epoche des Sturm und Drang war die Phase der Rebellion junger deutscher Autoren, die sich gegen die Prinzipien der Aufklärung und das gesellschaftliche System wendeten. Die Schriftsteller der Epoche des Sturm und Drangs waren häufig unter 30 Jahre alt. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Vorschein zu bringen, wurde im Besonderen darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten als Inspiration. Mit dem Hinwenden Goethes und Schillers zur Weimarer Klassik endete der Sturm und Drang.

Die Weimarer Klassik war beeinflusst worden durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit der Italienreise Goethes im Jahr 1786 und mit dem Tod Goethes 1832 eingrenzen. Sowohl die Bezeichnung Klassik als auch die Bezeichnung Weimarer Klassik sind gebräuchlich. Das literarische Zentrum dieser Epoche lag in Weimar. In Anlehnung an das antike Kunstideal wurde in der Weimarer Klassik nach Harmonie, Vollkommenheit, Humanität und der Übereinstimmung von Inhalt und Form gesucht. In der Lyrik haben die Dichter auf Stil- und Gestaltungsmittel aus der Antike zurückgegriffen. Beispielsweise war so die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders populär. Darüber hinaus verwendeten die Dichter eine pathetische, gehobene Sprache. Goethe, Schiller, Wieland und Herder bildeten das „Viergestirn“ der Klassik. Es gab natürlich auch noch andere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.

Das vorliegende Gedicht umfasst 1354 Wörter. Es baut sich aus 13 Strophen auf und besteht aus 152 Versen. Johann Wolfgang von Goethe ist auch der Autor für Gedichte wie „An die Entfernte“, „An die Günstigen“ und „An einen jungen Prahler“. Zum Autor des Gedichtes „Euphrosyne“ haben wir auf abi-pur.de weitere 1618 Gedichte veröffentlicht.

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