Erste Epistel von Johann Wolfgang von Goethe
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Jetzt, da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur |
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Ungeduldig durchblättern und, selbst die Feder ergreifend, |
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Auf das Büchlein ein Buch mit seltner Fertigkeit pfropfen, |
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Soll auch ich, du willst es, mein Freund, dir über das Schreiben |
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Schreibend, die Menge vermehren und meine Meinung verkünden, |
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Daß auch andere wieder darüber meinen und immer |
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So ins Unendliche fort die schwankende Woge sich wälze. |
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Doch so fähret der Fischer dem hohen Meer zu, sobald ihm |
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Günstig der Wind und der Morgen erscheint; er treibt sein Gewerbe, |
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Wenn auch hundert Gesellen die blinkende Fläche durchkreuzen. |
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Edler Freund, du wünschest das Wohl des Menschengeschlechtes, |
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Unserer Deutschen besonders und ganz vorzüglich des nächsten |
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Bürgers, und fürchtest die Folgen gefährlicher Bücher; wir haben |
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Leider oft sie gesehen. Was sollte man oder was könnten |
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Biedere Männer vereint, was könnten die Herrscher bewirken? |
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Ernst und wichtig erscheint mir die Frage, doch trifft sie mich eben |
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In vergnüglicher Stimmung. Im warmen, heiteren Wetter |
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Glänzet fruchtbar die Gegend; mir bringen liebliche Lüfte |
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Über die wallende Flut süß duftende Kühlung herüber, |
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Und dem Heitern erscheint die Welt auch heiter, und ferne Schwebt die |
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Sorge mir nur in leichten Wölkchen vorüber. |
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Was mein leichter Griffel entwirft, ist leicht zu verlöschen, |
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Und viel tiefer präget sich nicht der Eindruck der Lettern, |
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Die, so sagt man, der Ewigkeit trotzen. Freilich an viele |
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Spricht die gedruckte Kolumne; doch bald, wie jeder sein Antlitz, |
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Das er im Spiegel gesehen, vergißt, die behaglichen Züge, |
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So vergißt er das Wort, wenn auch von Erze gestempelt. |
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Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn viele |
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Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch |
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Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der andere sagte. |
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Mit den Büchern ist es nicht anders. Liest doch nur jeder |
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Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er |
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In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde. |
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Ganz vergebens strebst du daher, durch Schriften des Menschen |
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Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden; |
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Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung |
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Oder, wär er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes. |
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Sag ich, wie ich es denke, so scheint durchaus mir, es bildet |
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Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte. |
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Denn zwar hören wir gern, was unsre Meinung bestätigt, |
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Aber das Hören bestimmt nicht die Meinung; was uns zuwider |
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Wäre, glaubten wir wohl dem künstlichen Redner; doch eilet |
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Unser befreites Gemüt, gewohnte Bahnen zu suchen. |
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Sollen wir freudig horchen und willig gehorchen, so mußt du |
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Schmeicheln. Sprichst du zum Volke, zu Fürsten und Königen, allen |
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Magst du Geschichten erzählen, worin als wirklich erscheinet, |
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Was sie wünschen und was sie selber zu leben begehrten. |
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Wäre Homer von allen gehört, von allen gelesen, |
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Schmeichelt' er nicht dem Geiste sich ein, es sei auch der Hörer, |
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Wer er sei, und klinget nicht immer im hohen Palaste, |
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In des Königes Zelt die Ilias herrlich dem Helden? |
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Hört nicht aber dagegen Ulyssens wandernde Klugheit |
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Auf dem Markte sich besser, da, wo sich der Bürger versammelt? |
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Dort sieht jeglicher Held in Helm und Harnisch, es sieht hier |
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Sich der Bettler sogar in seinen Lumpen veredelt. |
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Also hört ich einmal, am wohlgepflasterten Ufer |
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Jener Neptunischen Stadt, allwo man geflügelte Löwen |
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Göttlich verehrt, ein Märchen erzählen. Im Kreise geschlossen, |
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Drängte das horchende Volk sich um den zerlumpten Rhapsoden. |
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»Einst«, so sprach er, »verschlug mich der Sturm ans Ufer der Insel, |
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Die Utopien heißt. Ich weiß nicht, ob sie ein andrer |
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Dieser Gesellschaft jemals betrat; sie lieget im Meere |
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Links von Herkules' Säulen. Ich ward gar freundlich empfangen; |
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In ein Gasthaus führte man mich, woselbst ich das beste |
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Essen und Trinken fand und weiches Lager und Pflege. |
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So verstrich ein Monat geschwind. Ich hatte des Kummers |
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Völlig vergessen und jeglicher Not; da fing sich im stillen |
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Aber die Sorge nun an: wie wird die Zeche dir leider |
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Nach der Mahlzeit bekommen? Denn nichts enthielte der Säckel. |
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'Reiche mir weniger!' bat ich den Wirt; er brachte nur immer |
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Desto mehr. Da wuchs mir die Angst, ich konnte nicht länger |
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Essen und sorgen und sagte zuletzt: 'Ich bitte, die Zeche |
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Billig zu machen, Herr Wirt!' Er aber mit finsterem Auge |
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Sah von der Seite mich an, ergriff den Knittel und schwenkte |
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Unbarmherzig ihn über mich her und traf mir die Schultern, |
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Traf den Kopf und hätte beinah mich zu Tode geschlagen. |
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Eilend lief ich davon und suchte den Richter; man holte |
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Gleich den Wirt, der ruhig erschien und bedächtig versetzte: |
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'Also müß es allen ergehn, die das heilige Gastrecht |
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Unserer Insel verletzen und, unanständig und gottlos, |
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Zeche verlangen vom Manne, der sie doch höflich bewirtet. |
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Sollt ich solche Beleidigung dulden im eigenen Hause? |
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Nein! es hätte fürwahr statt meines Herzens ein Schwamm nur |
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Mir im Busen gewohnt, wofern ich dergleichen gelitten.' |
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Darauf sagte der Richter zu mir: 'Vergesset die Schläge, |
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Denn Ihr habt die Strafe verdient, ja schärfere Schmerzen; |
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Aber wollt Ihr bleiben und mitbewohnen die Insel, |
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Müsset Ihr Euch erst würdig beweisen und tüchtig zum Bürger.' |
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'Ach!' versetzt ich, 'mein Herr, ich habe leider mich niemals |
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Gerne zur Arbeit gefügt. So hab ich auch keine Talente, |
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Die den Menschen bequemer ernähren; man hat mich im Spott nur |
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Hans Ohnsorge genannt und mich von Hause vertrieben.' |
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'O so sei uns gegrüßt!' versetzte der Richter; 'du sollst dich |
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Oben setzen zu Tisch, wenn sich die Gemeine versammelt, |
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Sollst im Rate den Platz, den du verdienest, erhalten. |
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Aber hüte dich wohl, daß nicht ein schändlicher Rückfall |
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Dich zur Arbeit verleite, daß man nicht etwa das Grabscheit |
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Oder das Ruder bei dir im Hause finde, du wärest |
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Gleich auf immer verloren und ohne Nahrung und Ehre. |
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Aber auf dem Markte zu sitzen, die Arme geschlungen |
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Über dem schwellenden Bauch, zu hören lustige |
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Lieder Unserer Sänger, zu sehn die Tänze der Mädchen, der Knaben |
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Spiele, das werde dir Pflicht, die du gelobest und schwörest.'« |
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So erzählte der Mann, und heiter waren die Stirnen |
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Aller Hörer geworden, und alle wünschten des Tages |
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Solche Wirte zu finden, ja solche Schläge zu dulden. |
Details zum Gedicht „Erste Epistel“
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106
1000
1749 - 1832
Sturm & Drang,
Klassik
Gedicht-Analyse
Der Autor des Gedichtes „Erste Epistel“ ist Johann Wolfgang von Goethe. Goethe wurde im Jahr 1749 in Frankfurt am Main geboren. Zwischen den Jahren 1765 und 1832 ist das Gedicht entstanden. Von der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her lässt sich das Gedicht den Epochen Sturm & Drang oder Klassik zuordnen. Bei Goethe handelt es sich um einen typischen Vertreter der genannten Epochen.
Zwischen den Epochen Empfindsamkeit und Klassik lässt sich in den Jahren von 1765 bis 1790 die Strömung Sturm und Drang einordnen. Zeitgenössische Genieperiode oder Geniezeit sind häufige Bezeichnungen für diese Literaturepoche. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierte der Geist der Aufklärung das philosophische und literarische Denken in Deutschland. Der Sturm und Drang kann als eine Jugend- und Protestbewegung gegen diese aufklärerischen Ideale verstanden werden. Das Rebellieren gegen die Epoche der Aufklärung brachte die wesentlichen Merkmale dieser Epoche hervor. Die Vertreter der Epoche des Sturm und Drang waren häufig Schriftsteller im jungen Alter, die sich gegen die vorherrschende Strömung der Aufklärung wandten. Um die persönlichen Empfindungen des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen, wurde insbesondere darauf geachtet eine geeignete Sprache zu finden und in den Gedichten einzusetzen. Es wurde eine eigene Jugendsprache und Jugendkultur mit kraftvollen Ausdrücken, Ausrufen, Halbsätzen und Wiederholungen geschaffen. Die traditionellen Werke vorangegangener Epochen wurden geschätzt und dienten weiterhin als Inspiration. Mit seinen beiden wichtigen Vertretern Goethe und Schiller entwickelte sich der Sturm und Drang weiter und ging in die Weimarer Klassik über.
Die Weimarer Klassik war geprägt durch die Französische Revolution mit ihren Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Der Kampf um eine Verfassung, die revolutionäre Diktatur unter Robespierre und der darauffolgende Bonapartismus führten zu den Grundstrukturen des 19. Jahrhundert (Nationalismus, Liberalismus und Imperialismus). Die Weimarer Klassik lässt sich zeitlich mit Goethes Italienreise im Jahr 1786 und mit Goethes Tod 1832 eingrenzen. Literarisches Zentrum und Ausgangspunkt der Weimarer Klassik (kurz auch oftmals einfach nur Klassik genannt) war Weimar. Die Klassik orientiert sich an traditionellen Vorbildern aus der Antike. Sie strebt nach Harmonie ganz im Gegensatz zur Epoche der Aufklärung und des Sturm und Drangs. In der Lyrik haben die Dichter auf Gestaltungs- und Stilmittel aus der Antike zurückgegriffen. So war beispielsweise die streng an formale Kriterien gebundene Ode besonders beliebt. Außerdem verwendeten die Dichter jener Zeit eine gehobene, pathetische Sprache. Schiller, Goethe, Herder und Wieland bildeten das „Viergestirn“ der Weimarer Klassik. Es gab natürlich auch noch andere Autoren, die typische Werke veröffentlichten, doch niemand übertraf die Fülle und die Popularität dieser vier Autoren.
Das vorliegende Gedicht umfasst 1000 Wörter. Es baut sich aus 10 Strophen auf und besteht aus 106 Versen. Weitere bekannte Gedichte des Autors Johann Wolfgang von Goethe sind „Alexis und Dora“, „Am 1. October 1797“ und „Amytnas“. Zum Autor des Gedichtes „Erste Epistel“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 1617 Gedichte vor.
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Weitere Gedichte des Autors Johann Wolfgang von Goethe (Infos zum Autor)
- Alexis und Dora
- Am 1. October 1797
- Amytnas
- An Annetten
- An Belinden
- An Lida
- An den Mond
- An den Schlaf
- An den Selbstherscher
- An die Entfernte
Zum Autor Johann Wolfgang von Goethe sind auf abi-pur.de 1617 Dokumente veröffentlicht. Alle Gedichte finden sich auf der Übersichtsseite des Autors.
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