Einsamkeiten von Richard Dehmel
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Nun still, mein Schritt, im stillen Nebelfeld; |
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hier rührt kein Leben mehr an meine Ruhe, |
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hier darf ich fühlen, daß ich einsam bin. |
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Kein Laut; kein Hauch; der bleiche Abend hält |
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im dichten Mantel schwer die Luft gefangen. |
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So thut es wohl dem unbewegten Sinn. |
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Mein Herz nur hör’ich noch; doch kein Verlangen |
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nach Leben ist dies Klopfen. Lust und Schmerz |
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ruhn hinter mir versunken – gleich zwei Stürmen, |
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die sich umarmen und im Wirbel sterben; |
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was störst du mich, mein allzu lautes Herz! |
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Sie haben Alle nie wie du gefühlt, |
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wie Du allein; nicht Freund, nicht Weib noch Kind; |
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sie sind auch einsam. Sieh, dort drüben |
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müht sich ein grüner Schein im Nebelmeer, |
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ein Bahnlicht – sieh: so glimmst auch du im Trüben. |
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Hinaus, hinaus, wo keine Menschen sind! |
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Was wollt ihr noch? Weiter! auf jenen Hügel, |
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der grau zu Dunkel schwillt; Gesichter, weicht! |
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sie folgen mir; o hätt’ich Flügel. |
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Und aus dem bleichen Feld tauchen die Sträucher |
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und sehen zu – der Hügel raucht: |
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wie feucht von Schweiß sich starr und breit |
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der Dunstalb an die Brust der Erde saugt. |
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Gesichter, weicht! weicht! Seht mich keuchen! |
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Sie folgen mir. Oh Qual der Einsamkeit. |
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Am Bahndamm niederzittr’ich in den Sand, |
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die glühende Stirne auf die nasse Schiene: |
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o käme jetzt das Eisenrad gerannt! |
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Kalt frißt sich mir der blanke Strom ins Mark, |
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die Hände pressen wild den harten Reifen – |
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ich kann nicht mehr! Da – – horch: sei stark: |
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Gellend am Horizont ein hohles Pfeifen, |
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zwei Augen quellen stechend aus der matten |
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Dunstferne, und – was will der Schatten, |
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was dunkelt dort der Erlenbusch? |
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Er löst sich, kommt; es reißt mich hoch, |
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er ist schon nah, ich will’s begreifen, |
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es nimmt Gestalt an, – Wahnsinn? Da: |
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den Nebel teilt ein schwarzer Streifen, |
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mein wühlender Blick wird still und weit: |
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Jubel – stumm schüttelt mich ein Schrei: |
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Jubel, ein Mensch! – Oh Herz – o Einsamkeit – |
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und knatternd stampft der Dampfzug mir vorbei. |
Details zum Gedicht „Einsamkeiten“
Richard Dehmel
7
44
317
1893
Moderne
Gedicht-Analyse
Das vorliegende Gedicht „Einsamkeiten“ wurde von Richard Dehmel verfasst, einem deutschen Dichter, der von 1863 bis 1920 lebte. Dehmel war ein Bedeutungsträger der literarischen Strömungen des Naturalismus und des Expressionismus, sodass man das Gedicht zeitlich in das späte 19. oder frühe 20. Jahrhundert einordnen kann.
Beim ersten Durchlesen hinterlässt das Gedicht einen stark melancholischen Eindruck. Es beschreibt die tief empfundene Einsamkeit und Sehnsucht des lyrischen Ichs, welches sich in einem ruhigen, nebligen Feld aufhält. Die Natur wird hier als ein Spiegel seiner Isolation und seiner inneren Ruhe dargestellt.
Im Gedicht werden die tiefe Melancholie und das Verlangen nach Isolation des lyrischen Ichs thematisiert. Es drückt aus, dass es sich von dem Leben und den Menschen isolieren möchte und es schätzt diese Einsamkeit als einen Zustand der Ruhe und inneren Frieden. In der letzten Strophe jedoch fühlt es sich von seinem eigenen Herzen gestört, welches ihm durch sein Klopfen seine Existenz in Erinnerung bringt. Es fühlt sich von allen unverstanden und will aus der menschlichen Welt hinaus. In der vierten und fünften Strophe bekommt seine Sehnsucht nach Isolation eine beängstigende Qualität wenn es sich wünscht, von der Last seiner Existenz erlöst zu werden. Das Ende des Gedichts ist dann paradoxerweise von Freude geprägt, da das lyrische Ich auf den Anblick eines anderen Menschen reagiert - aber dieser Mensch fährt nur in einem Zug vorbei, verkörpert also vielleicht die Unerreichbarkeit menschlicher Nähe.
Formal besteht „Einsamkeiten“ aus mehreren Strophen unterschiedlicher Versanzahl. Die Versform ist frei, und es hat keinen festen Reim oder Metrik, was typisch für den Expressionismus ist. Die Sprache des Gedichts ist stark bildhaft und metaphorisch. Wörter wie „Nebelfeld“, „bleicher Abend“, „dichter Mantel“ und „unbewegter Sinn“ erzeugen eine bildhafte, suggestive Atmosphäre und spiegeln die inneren Emotionen des lyrischen Ichs wider. Das Gedicht endet mit einem abrupten Wechsel von tiefster Verzweiflung zu leidenschaftlicher Freude, was dem Leser die Intensität der inneren Gefühle des lyrischen Ichs nahebringt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Richard Dehmels „Einsamkeiten“ ein tief bewegendes Gedicht über Isolation und Sehnsucht ist, das in seiner sprachlichen Intensität und bildhaften Gestaltung typisch für die expressionistische Periode der deutschen Literatur ist. Es zeigt Dehmels Fähigkeit, intensive Emotionen und die menschliche Erfahrung von Einsamkeit herausragend zu gestalten.
Weitere Informationen
Der Autor des Gedichtes „Einsamkeiten“ ist Richard Dehmel. Dehmel wurde im Jahr 1863 in Wendisch-Hermsdorf, Mark Brandenburg geboren. Entstanden ist das Gedicht im Jahr 1893. München ist der Erscheinungsort des Textes. Aufgrund der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. der Lebensdaten des Autors kann der Text der Epoche Moderne zugeordnet werden. Der Schriftsteller Dehmel ist ein typischer Vertreter der genannten Epoche. Das vorliegende Gedicht umfasst 317 Wörter. Es baut sich aus 7 Strophen auf und besteht aus 44 Versen. Die Gedichte „An mein Volk“, „Antwort“ und „Auf der Reise“ sind weitere Werke des Autors Richard Dehmel. Zum Autor des Gedichtes „Einsamkeiten“ liegen auf unserem Portal abi-pur.de weitere 522 Gedichte vor.
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