Einsame Wanderungen von Rudolf Lavant

Es hat mich oft hinausgezogen,
In Nächten sternenlos und rauh,
In der Novembernebel Wogen
Und in ihr dichtes, feuchtes Grau;
Es kam zu mir wie fernes Klagen
Der Glocken Hall, erstickt und dumpf,
Und geisterhaft ins Dämmern ragen
Sah ich am Bach den Weidenstumpf.
 
Ich schritt durch flockiges Gewimmel,
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Das weiß und dicht und still und sacht
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Herniedersank vom grauen Himmel
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In lautlos stummer Winternacht.
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ich sah die duftig-zarten Schleier
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Des Frostes von den Zweigen wehn,
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Und weiß bereift, in stiller Feier,
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Die Bäume wie verzaubert stehn.
 
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Ich bin allein hinausgeschritten,
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Und weggehaucht war alles Weh,
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Wenn leise unter meinen Schritten
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Geknirscht der frosterstarrte Schnee,
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Wenn sich in kalter Luft der linde,
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Der warme Mundeshauch verlor,
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Wenn mir der Bart im scharfen Winde
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Zu stechendem Gezack gefror.
 
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Ich sah die Sterne dicht und dichter
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Herauf in buntem Feuer ziehn,
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Und wenn das Spiel der Himmelslichter,
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Im Eise glitzernd wiederschien,
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Wenn wild daher das Sturmgetose,
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Die weite Fläche fegend, schnob,
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Daß wirbelnd mir das feine, lose
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Geweh’ ins Auge eisig stob –
 
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Dann hab’ ich zornig wohl und bitter
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Im Schreiten vor mich hingelacht,
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Wenn ich an all’ den Tand und Flitter,
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Der Andrer einzig Glück, gedacht,
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Bis mich mit ihrer Geistesleere
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Ein tiefes Mitleid überkam,
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Und allen Groll mir still die hehre,
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Tiefernste Pracht vom Herzen nahm.
Arbeitsblatt zum Gedicht
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Details zum Gedicht „Einsame Wanderungen“

Anzahl Strophen
5
Anzahl Verse
40
Anzahl Wörter
216
Entstehungsjahr
1893
Epoche
Naturalismus,
Moderne

Gedicht-Analyse

Dieses Gedicht namens „Einsame Wanderungen“ stammt von Rudolf Lavant, einem deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Seinem Geburts- und Sterbedatum zufolge gehört er zur Epoche des Realismus, jedoch zeigt sein Gedicht auch Elemente des Naturalismus.

Beim ersten Lesen fällt auf, wie bildlich und detailliert Lavant die Szenen und Empfindungen beschreibt. Man kann die raue und kalte Stimmung der Natur sowie den einsamen Zustand des lyrischen Ichs spüren.

Das Gedicht besteht aus fünf Strophen mit je acht Versen und erzählt von den Erlebnissen und Emotionen des lyrischen Ichs während seiner einzelnen, nächtlichen Wanderungen durch die Natur. Diese Naturwanderungen dienen ihm als Ausbruch aus dem Alltag und eine Möglichkeit, sich von seinen seelischen Qualen abzulenken. In den ersten beiden Strophen spricht das lyrische Ich von der trüben, kalten und raue Landschaft, die ihm jedoch eine gewisse Schönheit vermittelt. In der dritten Strophe wird deutlich, dass das Alleinsein in der Natur dem lyrischen Ich zu einer gewissen inneren Ruhe verhalf. In der vierten Strophe bemerkt das lyrische Ich die Sterne und ihren reflexiven Glanz auf dem Eis, den er als himmlisch empfindet. In der letzten Strophe thematisiert das lyrische Ich seine Verachtung für die Oberflächlichkeit der Gesellschaft, die seinen inneren Groll hervoruft. Aber der Anblick der schönen Natur lässt dieses Gefühl verschwinden und ersetzt es durch Mitleid und eine beruhigende Stille.

Sprachlich besteht das Gedicht aus einer lateinischen Anordnung von Jamben und Trochäen und enthält zahlreiche Metaphern und Vergleiche, die die eindringliche Wirkung des Gedichts unterstreichen. Das Gedicht nutzt Naturbilder, um Gefühle und Empfindungen zu verdeutlichen, eine Technik, die auch in vielen Gedichten des Realismus und des Naturalismus zu finden ist. Diese Art der Naturdarstellung geht oft mit einer kritischen Betrachtung der Gesellschaft einher, wie es in der letzten Strophe des Gedichts der Fall ist. Somit schafft Lavant einen eindrucksvollen Kontrast zwischen der inneren Welt des lyrischen Ichs und der äußeren Welt der Gesellschaft. Das Gedicht schließt mit einer Stoßseufzer-Formel ab und bildet so den Höhepunkt und Abschluss der Darstellung.

Insgesamt handelt es sich bei „Einsame Wanderungen“ um ein erzählendes, aussagekräftiges Werk, das dem Leser viel Raum zur Interpretation bietet. Durch die genaue Darstellung von Natur und Gefühlen gelingt es Lavant, sowohl die physische als auch die psychische Reise des lyrischen Ichs effektiv zu vermitteln.

Weitere Informationen

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Einsame Wanderungen“ des Autors Rudolf Lavant. 1844 wurde Lavant in Leipzig geboren. Die Entstehungszeit des Gedichtes geht auf das Jahr 1893 zurück. Stuttgart ist der Erscheinungsort des Textes. Das Gedicht lässt sich anhand der Entstehungszeit des Gedichtes bzw. von den Lebensdaten des Autors her den Epochen Naturalismus oder Moderne zuordnen. Die Angaben zur Epoche prüfe bitte vor Verwendung auf Richtigkeit. Die Zuordnung der Epochen ist ausschließlich auf zeitlicher Ebene geschehen. Da sich die Literaturepochen zeitlich teilweise überschneiden, ist eine reine zeitliche Zuordnung fehleranfällig. Das Gedicht besteht aus 40 Versen mit insgesamt 5 Strophen und umfasst dabei 216 Worte. Rudolf Lavant ist auch der Autor für Gedichte wie „An den Herrn Minister Herrfurth Exzellenz“, „An den Kladderadatsch“ und „An die Frauen“. Zum Autor des Gedichtes „Einsame Wanderungen“ haben wir auf abi-pur.de weitere 96 Gedichte veröffentlicht.

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